Von Buttes nach Sainte-Croix
Der Übertourismus tobt anderswo.
Tags zuvor haben wir im «NZZ-Folio» einige Artikel über den allenthalben epidemisch sich ausbreitenden overtourism gelesen, über den Problemherd des freizeitverwahrlosten Menschen, der von Sehnlichkeiten gelockt nicht anders kann, als unentwegt die Schönheit der für ihre Schönheiten berühmten Orte zu zertrampeln. Dieses «Folios» wegen haben wir doch auch ein bisschen befürchtet, uns den Aufstieg zum jurassischen, weite Blicke verheissenden Le Chasseron an jenem ersten Tag des neuen Jahres mit ein paar Hundert anderen teilen und am Sessellift lange in einer von logorrhoischen Freizeitlern gebildeten Schlange zubringen zu müssen.
Nun stehen wir in Buttes, wo die Gleise der von Neuchâtel herkommenden Eisenbahn hinreissend unspektakulär sieben Meter vor einem Misthaufen enden, stehen in diesem mundfaulen Dorf und blicken zum Sessellift: Reglos baumeln die grauen Zweisitzer im Nebel, fünf und mehr Meter über dem Gras, flankiert von stolzen Fichten. Auf dem riesigen Parkplatz tobt ausgelassen die Leere. Ein gemächlich vom Tal her zu den Jurarücken hin wandernder Wind versetzt die Sessel in eine minimale Schwingung; das Gieren und Ziehen in den dicken Seilen klettert die schlanke, den Nadelwald halbierende Schneise hoch und runter. Ansonsten ist es derart still, als wäre der molekularbiologische Winterschlaf ausgebrochen.
Während sich also der Übertourismus gerade anderswo engagiert, machen wir uns am Lift vorbei an den Aufstieg. Hin und wieder queren wir eine von Steilwandkurven und Schanzen nobilitierte Piste für Abfahrtsradfahrer. Die Strecke gliedert sich in nummerierte Abschnitte; ich lerne, dass Fahrer, aufgespiesst von einem Ast, am Telefon nur die entsprechende Nummer nennen müssen, um vom Notfallarzt rasch gefunden zu werden.
Erzählt die edle Sonnenbrille, die ich unweit der Piste entdecke, von einem Sturz? Oder rutschte sie während einer lauschigen Pause in Vergessenheit? Jedenfalls nehme ich sie mit – und trage damit womöglich das Schicksal verbiegend dazu bei, dass die Nebeldecke im genau gleichen Tempo an Höhe gewinnt wie wir; 1500 Meter über Meer sind längst erreicht, wir waten noch immer im Grau und beissen uns an der Hoffnung auf Sonne die Zähne aus. Mürrisch beschliesse ich, den lichtverscheuchenden Artikel öffentlich auszuschreiben: Wer mir seine Adresse nennt, dazu Farbe und Marke der Brille, erhält von mir ein schickes Paket!
Kurz vor dem Gipfel setzen wir uns im Kreis einiger hartgesottener Nadelhölzer auf einen sofakleinen Felsen; neben Brot und Käse schnappe ich mir einen Tannenzapfen, schneide ihm die Deckblätter ab und gelange so zu den erstaunlich gut geschützten Samen; eiförmige, halbharte Stücklein, die, na ja: die schmecken wie getrockneter Weissleim. Sich im Winter von der Natur zu ernähren – mein Respekt für Ötzi steigt Jahr für Jahr.
Im mythischen Dämmergrau suchen wir eine einladende Baumgruppe, in deren Obhut wir das Zelt aufbauen. Wind kommt auf, treibt Flocken durchs Unterholz und hinein in unsere Unterkunft; schnurrend ziehen Reissverschlüsse Grenzlinien zwischen un- und hochgemütlicher Welt.
Kaum ist es anderntags halbwegs hell, wecken uns laute Stimmen; ich befürchte, ein Reisebus habe ganz nahe einen Trupp Touristen freigelassen. Dann springt eine Kettensäge an, gefolgt von einer zweiten. Derart mit Lärm überschüttet, ziehen wir rasch los. Als Frühstück erwartet uns alsbald ein panoramisches Amuse-d’Œil, genossen auf einem besonnten, frisch bepuderten Gipfel. Wo ich mich hungrig daran erinnere, dass der Gipfel semantisch verschwistert ist mit dem Hörnchen, dem Croissant. Auf einen Kaffee aber müssen wir bis Sainte-Croix warten.