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Peter Stamm: «Nacht ist der Tag»

Peter Stamm:
«Nacht ist der Tag»

 

Sie ist wieder da, Peter Stamms Sprache, diese schlichte, scheinbar kunstlose Diktion. Und auch die zumeist weibliche Hauptfigur steht wieder im Zentrum des Geschehens. Peter Stamms neuer Roman «Nacht ist der Tag» weckt ein glückliches Wiedererkennungsgefühl – doch dann schleicht sich nach und nach ein Fremdeln ins Frohlocken.

Sehr schnell jedenfalls ist klar, dass Gillian, die Protagonistin, das Gesicht verliert – im doppelten Sinn. Die Fernseh-Kulturmoderatorin, erfolgreich, wie es scheint, vor allem durch ihr Aussehen, muss nach einem Autounfall mit einem entstellten Gesicht weiterleben. Auch der plastischen Chirurgie gelingt die Rückwandlung nicht vollumfänglich. Und so beginnt denn, erzwungenermassen, ein längerer Prozess der Mutation: Gillian nennt sich erst mal Jill. Dem Unfall vorangegangen war ein Ehestreit. Matthias, der Mann – er überlebt die Katastrophe nicht –, hatte Nacktfotos seiner Frau gefunden. Erklärungen, die er bekommt, sind rüde: «Wer hat die Fotos gemacht?» «Das geht dich nichts an.» Auch ihrem sonstigen Umgangston fehlt die zuneigende Nuance: «Gehst du auf den Strich?», fragt er, als Gillian zur Silvesterfeier gestylt vor ihm steht. Die verachtende Äusserung ist umso trauriger, als die folgende eher feuchte denn fröhliche Party zu ihrem letzten Beisammensein verkommt: auf der Heimfahrt kollidiert Matthias mit einem Reh.

Wahr ist, dass eine Geschichte, wie Peter Stamm sie hier erzählt, der eingehendsten Bearbeitung – sprich Literarisierung (es könnte auch Ironie sein) – bedarf, will sie nicht zur Hollywood-Story verkommen. Dann stattdessen das: «Ihr Leben vor dem Unfall war eine einzige Inszenierung gewesen.» – Über einen solchen für Peter Stamm unüblichen, lauthals verkündeten Behauptungssatz stolpert, wer sein bis anhin unverwechselbar lärmloses Schreiben schätzte. Sein neuer Roman basiert mehrheitlich auf solchen Informationen, auf Aussagen, die die Erzählung vor allem ungesagt vermitteln sollte. Aber sie bleibt über mehrere hundert Seiten an der Oberfläche, vermag es nicht, plastische Figuren zu schaffen, Figuren, die sich nach und nach entwickeln und sich zu lebenden Wesen wandeln.

Das gilt ganz besonders für Jill und ihr Verhältnis zu Hubert, dem Photographen der Aktphotos. Die Stationen ihrer Liebelei – Huberts Jill-Skizzen, Jill-Photos, die Trennung von seiner Frau und seinem Sohn, das Wiederzusammentreffen mit Jill im Engadin, wo diese unterdessen als Hotelangestellte arbeitet, die gemeinsam verbrachten Nächte, sein Zurückkehren zu Frau und Kind –, es bleiben einfach mitgeteilte Geschehnisse.

Liegt es am Glanz-und-Gloria-Hintergrund, am Lack, der an den Figuren klebt? Liegt es daran, dass die Schminke so dick aufgetragen ist, dass die Gesichter dahinter nicht erkennbar sind? Die Bilder, die bei der Lektüre früherer Bücher Peter Stamms aufstiegen – etwa beim 2001 bei Arche erschienenen Roman «Ungefähre Landschaft» –, jedenfalls, sie bleiben aus. War es damals so, als würde Kieselstein um Kieselstein ins unbewegte Wasser geworfen und gewähre für eine Weile Einblick in die Tiefe (der Figuren), so fallen diese Steine jetzt auf zugefrorene Flächen. Sie ziehen keine Kreise, nichts schaukelt, nichts bleibt im Ungefähren. Oben und Unten berühren sich nicht. Oben liegen Aussagen und verursachen reichlich Getöse. Aber unten, unten ist es still.

Peter Stamm: Nacht ist der Tag. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2013.

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