Andreas Neeser:
«Zwischen zwei Wassern»
Wäre der Ich-Erzähler mit Véro, seiner Freundin, nicht in den Urlaub gefahren, wären sie also nicht in die Breta-gne gereist, hätten sie dort nicht auf dem äussersten Zipfel auf einem Felsvorsprung gesessen, nicht genau in jener Minute, als eine einzige Flutwelle aus dem Wasser stieg – er wäre ein Jahr später nicht wieder an diesem Ort. Allein. Er würde nicht aufs Meer hinausstarren, im Kopf den Zweifel und im Herz die Verzweiflung. Fragen über Fragen: Warum wurde Véro vom Wasser erfasst und ins Meer gerissen? Warum wurde er an die Felswand geworfen und erlitt lediglich kleinere Verletzungen?
Warum ist er hier, sie aber nicht?
Der Mann will also nicht nur trauern, er will verstehen. Als Wissenschafter und Geograph ist er es gewohnt, die Dinge erst dann zur Seite zu legen, wenn er sie akribisch analysiert, durchdacht und begriffen hat. Wenn er sie schwarz auf weiss vor sich liegen hat. Was er bräuchte, um den endgültigen Verlust Véros zu akzeptieren, wäre ein Beweis: ein Photo des Unglücks, eine Grabstätte. Stattdessen hält er zahlreiche Photos in den Händen, die sie als lebensfrohe Urlauberin zeigen. Sie bezeugen Tage ihres Lebens – ihres Gelebthabens. Tag für Tag nimmt er ein Bild zur Hand, zerreisst es, wirft es ins Meer. Zugleich errichtet er einen Steinhaufen, den er täglich um einen Brocken erweitert.
«Das Meer macht keine Fehler.» «Es ist immer das Meer, das entscheidet.» «Das Meer gibt und das Meer nimmt.» In diesen drei Sätzen, geäussert von ortsansässigen «Sonderlingen» – Fischern, Künstlern, Lebenskünstlern –, versieht Andreas Neeser seinen Roman mit einer konträren Lebensanschauung. Dem Prinzip Wissen seines Protagonisten stellt er das Prinzip Vertrauen gegenüber. Es ist der Ort, der Erlösungsort, an dem der Autor seinen Helden am Ende des Buches haben will. Dieser hat auf seinem fünfwöchigen, steinigen Weg zahlreiche Entwicklungsschritte zu machen. Er ringt, er strauchelt und kommt endlich an. Dort, wo die Seefahrer, Fischer und Leuchtturmwächter zuhause sind.
Eine Geschichte, in der so viel Emotionalität mitschwingt, auch rührend zu erzählen, muss nicht bedeuten, sie mit süsslichem Dunst zu umgeben – und genau dieser Gefahr entgeht An-dreas Neeser bravourös. Er hält sich ans Prinzip des Weglassens und vor allem an knappe, treffende Bilder. Dort, wo Tränen, Trauer, Theatralik ins Spiel kommen, hängt er ein zartes Gemälde hin – ein Landschaftsbild, eine Meerstudie, ein Portrait. Das rückt seinen Roman immer wieder in die Nähe der Lyrik. Auch und gerade durch den Rhythmus, das wellenartige Ein- und Ausatmen seiner Satzkonstruktionen. Man könnte von einem rundum gelungenen Roman sprechen, wäre da nicht ein kleiner Störfaktor, ein Einfall, der quer zur Harmonie von Form und Inhalt steht. Es ist die Figur von Véros Vater, der mit seiner Art der Trauer, zu platt «das Böse» schlechthin versinnbildlichend, da und dort das Geschehen etwas gar dissonant aufmischt. Die polternde Vaterfigur ist überflüssig im ansonsten wohlgeformt stillen, feinen Fluidum des Romans – der Text wäre auch ohne sie ausgekommen.
Andreas Neeser: Zwischen zwei Wassern. Innsbruck: Haymon, 2014.