Nächster Halt: Jammers
Streifzug durch eine Stadt zwischen Sein, Schein und Schienen.
«Olten ist die beste Stadt der Welt», antwortete ich mit voller Überzeugung. Ich war wieder mal weg von hier und wieder mal gefragt worden, woher ich komme. Und wurde auf meine Antwort «Olten» hin wieder mal angeschaut, als habe mein Gegenüber nur Bahnhof verstanden. Dabei hat Olten so viel mehr zu bieten als nur den Bahnhof! Olten hat den «Outsider», den besten Metal-Plattenladen der Schweiz. Und früher den längsten Strassenstrich des Landes, aber den haben sie mittlerweile gekürzt. Dafür ist die Dichte an Kebab-Läden wohl ziemlich on top. Und jemand hat mir mal gesagt, Olten sei ein wichtiger Drogenumschlagplatz. Und: Olten ist eine Literaturstadt.
Zumindest deckt sich dieser letzte Punkt mit dem offiziellen Bild, das die Stadt von sich vermitteln will. Zum Beispiel mit den grossen APG-Plakaten, die im Sommer am Zürcher HB prangten: «Züri schnurred. Olten schreibt», stand da, wahrscheinlich als «sympathisch-frecher» Gedankenanstoss von einer dieser schier endlos hippen Werbefirmen ausgedacht. Drei Herren schmunzelten einem entgegen: Alex Capus, Franz Hohler und Pedro Lenz.
Capus, Hohler und Lenz als Botschafter der Literaturstadt Olten und für den 1. Schweizer Schriftstellerweg, den jüngsten und bisher kostspieligsten Versuch von literarischem Standortmarketing: das macht Sinn. Alle drei sind Erfolgsautoren, alle drei sind sie Oltner (auch wenn Hohler schon lange nicht mehr hier wohnt), vor allem Alex Capus: Mit «Der König von Olten» landete er 2009 nicht nur einen Überraschungserfolg, sondern zeichnete ein neues Bild von Olten als gar nicht so graue, sondern lebens- und liebenswerte Kleinstadt. Ein so kurioser wie «gmögiger» Flecken Erde voller echter Menschen und lauschiger Plätzchen, wo die Zeit langsamer läuft, wo man sich kennt, wo es sich gut leben lässt. «Das gute Leben» heisst denn auch Capus’ aktueller Roman. Es ist ein echter Olten-Roman. Er steht, während ich diesen Text schreibe, auf Platz eins der Schweizer und auf Platz 18 der «Spiegel»-Bestsellerliste. Olten, Ort der Bestseller, der Beschaulichkeit, der Einfachheit, der Echtheit. Olten, das Anti-Zürich, Anti-Basel, Anti-Spreitenbach. Das ist das Olten, das ankommt.
Natürlich weiss auch Capus (dem ich sonst Alex sage, man kennt sich ja in Olten), dass nicht alles nur Idylle ist in unserem Städtchen und auch die Geschichten der Figuren, die er in seinem Roman auf- und in seine Bar eintreten lässt, sind nicht alle so hellblau wie der Himmel auf dem Buchumschlag. Und natürlich weiss auch Olten Tourismus, dass es hier nicht nur Dichterstuben, die alte Holzbrücke und die Stadtkirche gibt, sondern auch die Alkoholiker davor und den McDonald’s vis-à-vis.
Es gibt nicht nur ein Olten, wie es ja auch nicht nur ein Zürich oder Spreitenbach gibt. Es gibt das Capus-Genügsamkeits-Olten, das Hohler-Erinnerungs-Olten, das Lenz-Pendler-Olten. Es gibt das Tourismus-Literatur-Olten, das Kneipen-, Live-Konzert- und Bahnhofs-Punk-Olten. Es gibt das Nationalliga-B-Eishockey-Olten. Das Hells-Angels- und Strassenstrich-Olten. Das Dort-bin-ich-einmal-umgestiegen-Olten. Und als wäre das alles nicht verwirrend genug, gibt es sogar noch ein Olten, das gar nicht Olten heissen muss, um Olten zu sein: ein Olten namens Jammers. In praktisch allen seinen Büchern nimmt uns Otto F. Walter, der im nahen Rickenbach aufwuchs, dorthin mit. In seinem Drittling «Die ersten Unruhen» wird sogar die Stadt selbst zur Hauptfigur, genauer zur bürgerlich-bünzligen Fortschritts-Dystopie. So wird Olten zu Jammers und Jammers zum Exempel für die Schweizer Gesellschaft in den 70ern und 80ern. Jammers ist überall. Und nirgends.
Ich kann verstehen, dass nicht Otto F. Walter, sondern Capus, Hohler und Lenz von den Plakaten lächeln. Walters Bücher findet man heute nicht mehr auf den Bestsellerlisten, ja zum Teil nicht einmal mehr in Buchhandlungen, dafür oft in Brockenstuben. Vermutlich sehnt sich ein gestresster, von Entschleunigung und Authentizität träumender Zürcher Pendler wohl eher nach dem beschaulichen Capus-Olten als nach Walters Jammers-Olten. Das ist okay. Das ist verständlich. Jedem sein Olten. Ich hab ja meins schon.