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Brief aus der Romandie (cinq)

Die jurierenden Schülerinnen und Schüler des «Roman des Romands» haben unter den acht in diesem Jahr nominierten Werken Xochitl Borels «L’alphabet des anges» (L’aire) ausgezeichnet. Die Ich-Erzählerin des schmalen Bandes muss erleben, wie ihr einäugiges Kind Aneth langsam die Sehkraft verliert. Partner, Stiefmutter und (ebenfalls einäugiger) Hund sorgen für liebevolle Zuwendung, doch es fliessen Tränenströme, […]

Die jurierenden Schülerinnen und Schüler des «Roman des Romands» haben unter den acht in diesem Jahr nominierten Werken Xochitl Borels «L’alphabet des anges» (L’aire) ausgezeichnet. Die Ich-Erzählerin des schmalen Bandes muss erleben, wie ihr einäugiges Kind Aneth langsam die Sehkraft verliert. Partner, Stiefmutter und (ebenfalls einäugiger) Hund sorgen für liebevolle Zuwendung, doch es fliessen Tränenströme, bis das erblindete Mädchen mit der Familie die Schönheit Südfrankreichs entdeckt. Der zweifellos anrührenden Geschichte fehlt jedoch eine Dimension, die über das rein Persönliche hinausgeht. Wer sich für Gesellschaftsfragen interessiert, kommt dafür bei den beiden diesjährigen Preisträgern der Schweizer Literaturpreise auf seine Rechnung: Antoinette Rychner erhält die Auszeichnung für ihre witzige Künstlersatire «Le prix» (Buchet Chastel) und ihr Kollege Yves Laplace für die Geschichte einer Genfer Familie während des Faschismus in «Plaine des héros» (Fayard).

Im neuen Buch von Pascale Kramer, «Autopsie d’un père» (Flammarion), geht es wie bei Xochitl Borel um eine Mutter und ihr behindertes Kind, einen gehörlosen Jungen, doch zeichnet die in Paris lebende Autorin gleichzeitig ein beunruhigendes Bild des heutigen Frankreich: Die geschiedene Ania lebt mit dem kleinen Théo in einem Pariser Vorort. Ihre Mutter ist früh verstorben und ihren Vater sieht sie selten. Sie besucht ihn jedoch, als er öffentlich in Ungnade fällt: Der vormals linke Journalist setzte sich für zwei Jugendliche ein, die einen papierlosen Schwarzen ermordet hatten. Die Welle des Hasses, die ihn darauf überrollt, hat fatale Folgen. Gabriel begeht Selbstmord, indem er Glasscherben verschluckt. Totenwache, Begegnung mit Gabriels Frau Clara und die Beerdigung bringen Anias Leben durcheinander. Dieser Roman ist nicht nur die «Autopsie eines Vaters», sondern die Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen in einer zersplitterten Gesellschaft. Pascale Kramers Beobachtungsgabe, ihre unsentimentale Präzision und ihre starken Porträts fügen sich ineinander – zu grosser Literatur.


Ruth Gantert
ist Redaktionsleiterin des dreisprachigen Jahrbuchs der Schweizer Literaturen «Viceversa» und der Plattform www.viceversaliteratur.ch. Sie lebt in Zürich.

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