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Brief aus der Romandie (dix)

Als einer, der «nichts mit seinen Händen anzufangen weiss», dafür umso mehr mit seinen Füssen, präsentiert sich der Genfer Claude Tabarini, der in «Rue des gares et autres lieux rêvés» (Héros-Limite) seine Heimatstadt und ihr Umland durchstreift. Der Band brachte dem Dichter und Jazzmusiker zwei der wichtigsten Preise der Romandie ein: den Prix Michel-Dentan und […]

Als einer, der «nichts mit seinen Händen anzufangen weiss», dafür umso mehr mit seinen Füssen, präsentiert sich der Genfer Claude Tabarini, der in «Rue des gares et autres lieux rêvés» (Héros-Limite) seine Heimatstadt und ihr Umland durchstreift. Der Band brachte dem Dichter und Jazzmusiker zwei der wichtigsten Preise der Romandie ein: den Prix Michel-Dentan und den Prix Pittard de l’Andelyn. Achtzig poetische Prosastücke, zwischen einer halben und drei Seiten lang, manchmal gefolgt von kurzen Versen, entwerfen mit leichtem Strich das Porträt eines Quartiers, einer Strasse, eines Hinterhofs und deren Bewohner. Der Stadtspaziergänger betätigt sich auch als Fotograf – elf Bilder sind dem Buch lose beigefügt, elf Seiten bleiben leer bis auf den angedeuteten Rahmen. Er notiert Fragmente auf Bustickets und stöbert in Antiquariaten. Manchmal scheinen dabei Erinnerungen auf, deren nostalgiefreier Schalk entzückt: Wie der junge Autor zum Dank für die Publikation seines Gedichtbands den feinsinnigen Georges Haldas zu Waadtländer Saucissons einlädt, ihn in Haschisch-Schwaden hüllt und mit John Coltrane beschallt, bleibt unvergesslich.

Mehrfach preisgekrönt ist auch die Walliserin Noëlle Revaz, die bei Gallimard einen Erzählband vorlegt, «Hermine Blanche». Nach der etwas langatmigen Satire des Literaturbetriebs in «L’infini livre» (Zoé, deutsch von Ralf Pannowitsch bei Wallstein, «Das unendliche Buch») beeindruckt die Autorin mit perfekt konstruierten, konzisen Geschichten. Mit der Wucht und Überzeugungskraft der Märchen, auf die sie manchmal anspielt, kreist sie um sadomasochistische Beziehungen zwischen den Generationen und den Geschlechtern. Dabei sind Opfer und Täter oft nicht da, wo man sie vermuten würde. So in «Coup de pouce», in dem ein Junge die Lektion, dass man verletzte Tiere töten soll, eifrig umsetzt: «‹Grossvater, ich werde dich erlösen›, sage ich und drücke mit den Händen zu, damit es schneller geht. Solche Geschichten tun mir im Herzen weh.»


Ruth Gantert
ist Redaktionsleiterin des dreisprachigen Jahrbuchs der Schweizer Literaturen «Viceversa» und der Plattform www.viceversaliteratur.ch. Sie lebt in Zürich.

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