Christoph Braendle: «Aus den Augen»
Eros in Rom: Variation auf «Ein unmoralisches Angebot» – mit weniger Hollywood, dafür mehr Kunstsinn.
Bei Christoph Braendle, dem Schweizer Weltenbummler aus Wien, geht es selten ganz ohne Erotik. Braendle hat skurrile Theaterstücke und glänzende Essays verfasst und eine beachtliche Menge an Büchern publiziert, unglücklicherweise in unterschiedlichen Verlagen. Was seiner Sichtbarkeit nicht gut tat. Seinen Werken gemeinsam sind ihre hohe sprachliche Qualität, der wache, neugierige Blick auf die Welt sowie die immer wieder verblüffende Originalität des jeweiligen Themas und der gewählten literarischen Form. Und eben: die Beschäftigung mit der Lust und der Liebe.
Das gilt auch für seinen jüngsten Roman. «Aus den Augen» spielt in Rom, wo ein aus dem geistfeindlichen und intriganten Wiener Künstlermilieu geflüchteter junger Maler die alten Meister studiert, vor allem die Marien- und sonstigen Frauenfiguren in den zahlreichen Kirchen. Langweilig? Nein, denn gleich zu Beginn begegnet er in seinem Stammcafé einem alten und offenbar sehr reichen Mann, der ihm ein ungewöhnlich hohes Honorar verspricht, wenn er dessen wesentlich jüngere Gattin Lisa porträtiert. Nackt natürlich. Öl auf Leinwand, zwei Meter fünfzig mal ein Meter sechzig. Zum Deal gehört, dass ihm der alte Herr in aller Ausführlichkeit seine Lebens- und Liebesgeschichte erzählen darf – was dem Maler anfangs gar nicht recht ist. Doch diese Geschichte, dominiert von der Jagd nach einem erfüllten zugleich erotischen und ästhetischen Leben, ist extrem spannend. Zumal die üppige, kluge und lebensweise Gemahlin und der in den Sog der pikanten Konstellation hineingezogene Ich-Erzähler andere, vielleicht zeitgemässere Sichtweisen einbringen als der alte Herr, «der typische Repräsentant einer verzweifelten Linken, saturierten Wohlstand geniessend inmitten einer finsteren, Depression erzeugenden Welt». «Aus den Augen» entfaltet drei auf ganz unterschiedliche Weise vom Eros getriebene Lebensläufe mit oft überraschenden Wendungen und jähen Volten. Drei Hauptfiguren, das bedeutet hier auch: häufige Perspektiven- und Sprachwechsel, Vermischung und Verschachtelung von Erzählebenen und -zeiten, Zitate aus der Kunst-, Literatur- und Filmgeschichte – modernes Erzählen eben. Der Lesbarkeit schadet das nicht, und die Leserneugier bleibt bis zum Schluss erhalten. Ja, vielleicht hat der junge Maler am Ende wirklich ein vollendetes Meisterwerk geschaffen! Doch hat es ihm geholfen? Kann Kunst helfen? Und wenn nicht, wozu ist sie dann da? «Aus den Augen» ist, ganz nebenher, auch ein kunstphilosophischer Roman.
Christoph Braendle: Aus den Augen. Weitra: Verlag Bibliothek der Provinz, 2019.