Dana Grigorcea:
«Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit»
Geradezu süchtig nach den Geschichten von früher ist Victoria, die Protagonistin in Dana Grigorceas neustem Roman, und bedankt sich dafür herzlich bei ihrer Grossmutter «Mémé». Ihre Eltern, die würden ihr gar nichts erzählen. «Was sollen sie denn erzählen?», erwidert Mémé der Enkelin, «die Armen haben ja nichts erlebt.»
«Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» spielt im gegenwärtigen Bukarest – mit all seinen Spuren, die das letzte Jahrhundert in ihm hinterlassen hat. Und Victoria, die für eine Weile am Zürcher Paradeplatz gearbeitet hat, ist gerade wieder dahin zurückgekehrt. Eine typische Enkel-Täter-Herkunftssuche im posttotalitären Raum also? Exotische Blicke hinter den Eisernen Vorhang? Ja – und nein: die durchaus gewinnende Protagonistin trägt das Glück der Spätgeborenen wie ein Kostüm im Stile eines eleganten Deuxpièces, das fast etwas zu gut sitzt. Der Banküberfall zu Beginn des Romans widerfährt ihr, rührt sie aber kaum an. Er beschert ihr vielmehr zwei angenehme Neuerungen: Freund Flavian, der die Klaviatur der Geschichten von früher – von «ganz früher» – zu spielen weiss wie Mémé, zieht bei ihr ein und die verschriebenen Therapiesitzungen bei Frau Miclescu gleichen «Plauderstündchen». Victoria, die siegreiche, hat auf ganzer Linie gewonnen, ein Hinterfragen der eigenen Position findet nicht statt, auch wenn die Sprechstunde Hand dazu böte. Welche Position auch? Die Rollen sind klar verteilt: die Alten – die ganz Alten – wussten noch zu leben und auch, worum sie das sozialistische Rumänien gebracht hatte; die Alten der Elterngeneration kannten nur die Angst, in irgendeine Schuld zu geraten; und die Jungen sind zu jung, um Position dazu zu beziehen – alles Glück der Welt liegt ihnen ja zu Füssen. Selbst Michael Jackson war nach der Wende zu Besuch, auch wenn er nicht recht zu wissen schien, wen er da grüsste.
In leichtem Ton werden hier historische Ereignisse von vielen, bisweilen kurligen Figuren erzählt. Etwas zu leichtfüssig, könnte man anfügen. Aber genau hierin liegt die Stärke des Romans, der eben gerade nicht nur beklagt, was nicht geändert werden kann, sondern erzählt, was es zu erzählen gibt. Grigorcea lässt im Zürcher «Sprüngli» denn auch eine Slowakin behaupten, dass die Leute «da», also im sogenannten Ostblock, mehr zusammengehalten hätten. Und diese Plattitüde kommt Victoria gerade nicht über die Lippen. Sie bleibt immer nett und hübsch und gescheit, gefällt sich in den vielen Attributen, die von aussen an sie herangetragen werden, widerspricht kaum, reagiert ohnehin selten. Als Erzählerin aber kommentiert sie gleichzeitig wunderbar zynisch und mit böser Zunge, wie die Leute sie wahrnehmen. Die Trennung von Innen und Aussen, bis zur Ermüdung der Leserin wird sie getrieben, die sich leise fragt: «Warum sagt sie das nicht laut? Wozu noch mehr Distanz? Wie lange soll sich das noch so hinziehen?» Immer schriller schallen die Fragen in meinem Inneren, mit jeder weiteren Seite – bis zum Auftritt der Antagonistin: einer gleichnamigen Jüngeren, die eben nicht der Übergangs-, sondern der Nachwendegeneration angehört. Die Konstellation von Aussehen und Anerkennung, von Erinnerung und Erzählung beginnt sich zu verschieben: es kommt zum Clash der Schuldlosigkeiten – zumindest in Victoria, der Älteren, und damit zum Lichten ihres eigenen Vorhanges, der das Innen vom Aussen eisern trennte. Schwieriger Stoff, vermeintlich leichte Kost, lohnende Lektüre!
Dana Grigorcea: Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit. Zürich: Dörlemann, 2015.