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Das Treiben fremder Leute

Über trinkende Frauen.

Das Treiben fremder Leute
Photographiert von Ayse Yavas

«Sie konnte sich nicht auf den Tag genau erinnern, wann sie selbst zu trinken anfing. Ihre Tage gingen gleichförmig dahin. Wie Tropfen an einer Fensterscheibe, so rollten sie ineinander und sickerten davon.» – Dorothy Parker: Eine starke Blondine (Big Blonde)

Es war Samstagnachmittag, draussen stand die Luft still vor Hitze, die Bar war eine kühldunkle Höhle, in die sich zu dieser Zeit noch kaum jemand verirrte. Niemand ausser dieser Frau. Elegant gekleidet, blond und hübsch. Erst als sie einen Whiskey bestellte, schien der erste Eindruck zu trügen, irgendwas wirkte verschoben an dieser Frau, die Augenbrauen, das verwischte Make-up von gestern, die Stimme leicht schleppend, die Bewegungen fahrig, der Gang geduckt, die Augenringe unter einer blutunterlaufenen Iris, dieser Blick. Letzterer war es, der mich in der Aufzählung verschiedenster Single Malts, Ryes oder Bourbons, der Cocktails, Manhattan, Whiskey Sour oder Old Fashioned, innehalten und ihr einen günstigen amerikanischen Whiskey auf Eis hinstellen liess, ein Glas Wasser vorsorglich daneben. Die Frau kippte die Hälfte des Wassers in das Whiskeyglas und trank in einem Zug. Ein Highball, dachte ich, erst vor kurzem hatte ich diesen – in der amerikanischen Literatur von Chandler über Fitzgerald bis zu Parker oft wie Limonade getrunkenen – Cocktail nachgeschlagen und erfahren, dass er nur aus zwei Zutaten besteht: Gin und Tonic oder Whiskey mit Soda oder Ginger Ale. Doch die Bezeichnung des Cocktails war dieser Frau egal, sie trank schon das nächste Glas.

Sie erinnerte mich an Lili. Meine Freundin Lili, die mit mir trank bis in die Morgenstunden. Lili, die frühmorgens ihren Kopf auf den Tresen legte und einschlief, als sei sie in der Bar zuhause. Die zierliche Lili, die einen bekannten Berliner Galeristen, der bestimmt dreimal ihr Gewicht auf die Waage brachte, mühelos unter den Tisch trinken konnte. Lili, die auf Vernissagen ging, um zu trinken, und auf ihrer eigenen eine Schlägerei anzettelte. Lili, die gefeierte Künstlerin, Lili, die gefallene Künstlerin. Lili, die man selten trinken sah, aber dennoch wusste, dass sie immer trank. Lili, deren Hund sich, wenn sie getrunken hatte, vor ihr duckte. Lili, die sich vor dem Leben duckte, eine gebückte Haltung einnahm, als wäre sie auf der Hut. Lili, die immer noch alle herumkriegte, die Männer sowieso. Lili, die auch mich immer rumkriegte. Lili, die einen Therapieplatz in Aussicht hatte. They tried to make me go to rehab. I said No, No, No. Lili, die man nicht (mehr) trinken sah, aber wusste, dass sie trank.

In einer Erzählung von Dorothy Parker, «Big Blonde», beginnt eine Frau zu trinken, nicht aus Lust, eher aus Langeweile. Und weil ihre Männer und alle anderen auch trinken. Nach einem ebenso beiläufig wie sarkastisch geschilderten Suizidversuch wird weiter getrunken. In der Erzählung steht der grossartig-deprimierende Satz: «Mit Mitte dreissig sah sie ihre alten Tage als verschwommene, flackernde Sequenz, als einen unvollendeten Film über das Treiben fremder Leute.»

Die Frau trank ihren Whiskey, zahlte und ging. Vielleicht habe ich mich auch geirrt, dachte ich, sie hat nur einen schlechten Tag, das ganz normale, tägliche Elend, und brauchte einen Whiskey, um alles runterzuspülen. Lili jedoch hatte aufgehört.

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