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Der Dichter als Krebsgeschwür

Als ein Dichterpamphlet das Wallis entzweite. Über Maurice Chappaz’ «Die Zuhälter des ewigen Schnees». Und was Sepp Blatter dazu meint.

«Das Wallis hat sein Krebsgeschwür: Maurice Chappaz», schrieb die grösste Tageszeitung im Kanton, «Le Nouvelliste», am 27. März 1976. «Landesverrat» und «Verleumdung» waren noch die freundlicheren Vorwürfe des Blattes. Es war der Anfang einer regelrechten Hetzkampagne, voll auf den Mann gespielt: Chappaz «spucke in die Suppe», schreibe stets, um die zivilisatorischen Werte, die die Schweiz nach vorne gebracht hätten, schlechtzumachen. Chappaz verunglimpfe das Wallis, stimmte der Chor christlich-konservativer Leserbriefschreiber mit ein, er sei ein Nestbeschmutzer – und natürlich auch, immer opportun in jenen Jahren, eine «rote Gefahr». Menge und Heftigkeit der Angriffe riefen wiederum Verteidiger auf den Plan – und da, wo das Rhonetal am engsten ist und vorbeimuss, wer ins Wallis will, stand fortan 30 Jahre lang «Vive Chappaz», hinterlassen von Studenten des Kollegiums Saint-Maurice. Bewegte Tage.

Was war passiert? – Ein Dichter hatte gedichtet. Maurice Chappaz hatte «Les maquereaux des cimes blances» veröffentlicht – in der deutschen Übersetzung «Die Zuhälter des ewigen Schnees».1 Ein «Pamphlet», so der Untertitel, in dem er den Ausverkauf des Wallis – seiner Natur, seiner Berge, seines Wassers und Schnees – im Dienste einer falsch verstandenen Modernisierung anprangerte.

Wer heute ins Wallis reist, kann mit eigenen Augen sehen, was Chappaz meinte: das Chaletmeer von Verbier – mit alpinem Flugplatz, aber ohne Ortsbild –, die riesige Aluminiumfabrik in Chippis bei Sierre, die Ölraffinerie Collombey. Und natürlich die Bauten für die Wasserkraft wie die heute noch grösste Staumauer Europas, die «Grande Dixence», bei deren Bau Chappaz als Geometerassistent sogar höchstselbst mitwirkte (und der er, versteht sich, eine alles andere als glorifizierende Hymne, den «Chant de la Grande Dixence», widmete). Modernisierungsprojekte, die von einer gut vernetzten Politik- und Wirtschaftselite vorangetrieben und kompromisslos durchgesetzt wurden.

Meinungsmache im Meinungsblatt

Die «Causa Chappaz» nimmt uns mit in das Mehrheitswallis jener Zeit, katholisch, antikommunistisch und verfilzt bis ins Mark, gleichzeitig aber mit einem unerschütterlichen Glauben an Fortschritt und Moderne ausgestattet. Der «Nouvelliste» machte es vor – das Blättchen von hinter den Bergen war die erste Zeitung der Schweiz, die im Vierfarbendruck erschien. Gleichzeitig war es aber auch die einzige Zeitung der Schweiz, die Abstimmungsempfehlungen in Form ausgefüllter Stimmzettel druckte. Der schillernde Verleger André Luisier scheute sich nicht, auch öffentlich von «unseren» Politikern zu sprechen – gemeint waren die Katholisch-Konservativen und späteren Christdemokraten – und die «nichtunsrige» Opposition in Leitartikeln und Kolumnen aufs vehementeste ad hominem anzugreifen. Nicht umsonst lautete der volle Name der Zeitung «Nouvelliste et Feuille d’Avis du Valais», und Meinung konnte es nur eine geben. In einer Zeit, als das Fernsehen den gedruckten Neuigkeiten noch keine Konkurrenz war (und regional erst recht nicht), dominierte der «Nouvelliste» die öffentliche Meinungsbildung im französischsprachigen Wallis klar.

Dieses Wallis mag heute weitgehend Vergangenheit sein. Die Entwicklungen aber, die Maurice Chappaz in seinen Texten herausstellte und kritisierte, sind bis heute sichtbar oder setzten sich fort. 2012 nahmen die Schweizer Stimmbürger die «Zweitwohnungsinitiative» an, die den Anteil von Ferienwohnungen in einer Gemeinde begrenzen soll, um der Gefahr der Zersiedelung Einhalt zu gebieten – vor allem im Alpenraum und zuvorderst im Wallis. Die Frage eines angemessenen Umwelt- und Naturschutzes angesichts der weiter zunehmenden Beanspruchung der Landschaft durch den Tourismus bleibt ein Dauerbrenner. Und in das Lied, das Barcelona, Dubrovnik oder Venedig vom «Overtourism» singen, könnte Chappaz wohl nur deshalb nicht einstimmen, weil seinem Wallis auf der Hochpreisinsel Schweiz das Ärgste erspart geblieben ist.

Hymnen und Holzhammer Seite an Seite

Aber wie liest sich nun dieser offenbar so skandalträchtige Text, ganz konkret? In dreissig kurzen bis sehr kurzen Kapiteln lässt der Autor ein Alter ego die letzten Tage eines Endzeit-Wallis durchleben, das am Ausverkauf seiner selbst zugrunde geht und schliesslich als Wüste – aber immerhin auch von seinen Ausbeutern befreit – dasteht.

Wer sucht, der findet in dem schmalen, schwefelgelben Büchlein durchaus derbes, grobes Vokabular: «Per anum haben sie das Land gefickt, bis dass die Firne wie Eisberge auf sie herniederfallen.» Oder wenn zwei Rhone-Fische finden: «So man die Natur erhalten will, muss man den Menschen töten.» Dominierend ist aber eine ganz andere Sprache: Hymnisches, metaphorisch Verklausuliertes mit reichlich christlicher Symbolik, dazwischen aber immer wieder auch deftiger Humor und  Regionalismen – «Die Zuhälter des ewigen Schnees» liest sich letztlich wie ein typischer Chappaz. Voller Andeutungen, Umschreibungen, Sprachbilder und versteckter Bezüge ist dieses «Pamphlet» das Gegenteil üblicher, überdeutlicher Agitationsschriften.

«Prosperität auf japanisch.

Selbstmordkurs im Steigen, Zinsfuss des enormen Wuchers

galoppierend.

Ein Strohhalm das Leben.

Richter Desbrebis hatte seinen Bleistift in den Schusskanal

durch Farinet’s Kopf gesteckt.

Wie weiland der Heilige Thomas.»

«Ihr wollt es nicht begreifen» ist dieses Kürzestkapitelchen überschrieben. – Wollen schon, lieber Chappaz, wollen schon. Dass eine solche Sprache geeignet war, die Gemüter breiter Bevölkerungsanteile zu erhitzen, ist erstaunlich. Oder müsste man ketzerisch fragen: Wie viele unter jenen Walliser Wutbürgern hatten den Text überhaupt gelesen?

Gespaltene Gesellschaft

Warum führte gerade – oder: erst – dieses Büchlein zu solch heftigen Reaktionen? Maurice Chappaz hatte 1976 schon drei Jahrzehnte lang immer wieder gegen die befürchtete Zerstörung seines Wallis protestiert. In Artikeln, etwa 1948, als die Armee einen Waffenplatz im Naturschutzgebiet des Pfynwalds plante.

Und auch in seinem dichterischen Werk schlichen sich schon früh Protestnoten ins fast naive Besingen der erhabenen Berglandschaft – so schrieb Chappaz etwa im «Testament der oberen Rhone» zum Teil genauso heftig gegen die Verschandelung der Walliser Natur durch Überindustrialisierung und Tourismus, ohne dass dies grosse Wellen geworfen hätte.

In den 1960er und 1970er Jahren aber explodierten Tourismus und Bautätigkeit. Als das Ausmass der jahrelangen Fluoridverschmutzung durch die Alusuisse-Fabrik bei Sierre öffentlich wurde, erstarkte zudem die Umweltbewegung. Die ganze Gesellschaft war durch die bleiernen Jahre des Kalten Krieges ohnehin latent gespalten. Und mit Jean Zieglers «Eine Schweiz, über jeden Verdacht erhaben» erschien im selben Jahr ein weiteres Buch eines «Nestbeschmutzers». Vor diesem Hintergrund brauchte es offenbar nicht viel, um die Walliser Gemüter zu erregen.

Dass ein dichterischer Text wie «Die Zuhälter des ewigen Schnees» dazu geeignet war, eine solche Kontroverse anzu­zetteln, bleibt bemerkenswert, ja schier unglaublich. Hand aufs Herz: da würde doch der eine oder die andere, die heute weitgehend unbeachtet ihre Verse verfassen und veröffentlichen, sich noch so gern als Krebsgeschwür verunglimpfen lassen.

Maurice Chappaz schadete die Kontroverse im übrigen nicht unbedingt – eher im Gegenteil. Die «Zuhälter» machten ihn überregional bekannt und anerkannt, und weniger als zehn Jahre nach Veröffentlichung seines Pamphlets erhielt Chappaz 1985 den Walliser Staatspreis – ausdrücklich auch für seine «wertvollen Warnungen».

Epilog

Am Literaturfestival «Le livre sur les quais» in Morges treffe ich überraschend auf einen Zeitzeugen der Chappaz’schen Proteste: Ex-Fifa-Präsident Joseph «Sepp» Blatter stellt hier sein neues Buch, «Meine Wahrheit», vor – da sitzt er im dunkelblauen Zwirn auf dem Holzklappstuhl, wie alle anderen Autoren, signiert und kann ungehindert angesprochen werden. Von 1959 bis 1964 war Blatter Präsident des Walliser Verkehrsverbands. Als Tourismusvermarkter stand er also, wenn man so will, auf des Pamphletisten Gegenseite. Blatter lächelt, als ich ihn auf Chappaz anspreche: Selbstverständlich erinnere er sich. «Unser Poet!»  ruft er aus und schüttelt mit der Hand eine pathetische Bewegung in die Luft. Der Dichter habe natürlich recht gehabt, meint er nun, die Geschäftsbeziehungen im Wallis seien zuweilen etwas «inzestuös» gewesen. Dass der «Nouvelliste» sich und «seine» katholisch-konservativen Politiker angegriffen sah und gegen einen seiner langjährigen Lieblings«feinde» heftig zurückschoss, habe niemanden überraschen können. «Das Wallis ist das Land der Gegensätze, und genauso verschieden sind die Menschen» – die einen «KK», die anderen Chappaz. «Ich», fügt Blatter an, ohne dass ich gefragt hätte, «war ja immer eher der Typ Chappaz.»

  1. Maurice Chappaz: «Die Zuhälter des ewigen Schnees», aus dem Französischen übersetzt von Pierre Imhasly. Zürich: Orte-Verlag, 1976.

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Schreibend immer schön nett sein, mit Kritik nie konkret werden: das Leben als Künstler könnte so leicht sein. Doch Literatur, die aus Gleichgültigkeit oder Pflicht geschaffen wird, langweilt sich selbst zu Tode. Ein Intro zum Schwerpunkt «Zorn und Protest».

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