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I rege mi uf #4

Die Geschichte von Zorn beginnt in meinen Jugendjahren. Er stand damals in seiner vollen Blüte, war Publikumsmagnet und Wahrzeichen der Stadt. Sein Donnergrollen schallte weit über die Grenzen des Zoos hinaus und liess in den umliegenden Quartieren Jalousien zittern, Geschirr klappern und Kinderaugen leuchten. Wäre es nach Zorn gegangen, hätte es für immer so bleiben können, aber der Zahn der Zeit nagte auch an seinem Podest und als die Einnahmen des Zoos schliesslich stagnierten und die Besucherzahlen sogar rückläufig wurden, beschloss die Leitung, dass es nun Zeit für einen kompletten Umbau sei. Zorn habe ausgedient und passe auch nicht zu dem neuen Image, das man nun pflegen wolle. Man spielte sogar mit dem Gedanken, Zorn einfach einschläfern und verschwinden zu lassen. Daraufhin intervenierte sein langjähriger Trainer und drohte, mit der Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, sollten sie es wagen, Zorn auch nur ein Haar zu krümmen. So verlegte man im Zuge der Renovationsarbeiten das Gehege von Zorn in den hintersten Teil der Anlage gleich neben den stinkenden Tümpel der Humboldtpinguine, die sich von früh bis spät über ihn lustig machten und ihn mit Fisch bewarfen.

Gekränkt und gedemütigt zog er sich zurück, verschmähte das Futter und griff sogar seinen Pfleger an, der kurz darauf, traumatisiert von dem Vorfall, die Stelle wechselte und seinen Schützling zurückliess. Inzwischen war das Delfinbassin fertiggestellt worden und man feierte die Neueröffnung mit Friede, Freude, Eierkuchen und einem Konzert der Heilsarmee.

Wäre es nach Flipper gegangen, hätte es für immer so bleiben können, doch an einem lauhen Nachmittag im Mai geschah schliesslich das Unausweichliche: Zorn erwachte zu neuem Leben. Anlass war ein verzogener Junge, der unaufhörlich mit Kieselsteinen nach ihm warf. Schnaubend öffnete Zorn seine verkrusteten Augen und schnappte nach der Rotzgöre. Der Junge wich erschrocken zurück, griff verängstigt nach der Hand seiner Mutter, um kurz daraufhin den nächsten Stein zu werfen. Wutentbrannt erhob sich das Ungeheuer und stiess einen Schrei aus, der so schrecklich war, dass zwei der Humboldtpinguine einen Herzstillstand erlitten und auf der Stelle tot umfielen. Jetzt erst, da er in voller Grösse aufrecht dastand, sah man, dass Zorn nicht mehr der alte Zorn war. Zorn war jetzt Hass. Alter, kalter, hässlicher Hass. Er war grösser und stärker als je zuvor und Hass wollte Rache. Mit einem mächtigen Prankenhieb riss er ein Loch in das Stahlgitter, packte den Jungen, riss ihm den Kopf ab und spickte seinen leblosen Körper weg, wie einen Zigarettenstummel. Auf dem Weg zum Ausgang brach er alle Käfige auf und ätzte mit seinen Laseraugen ein grosses Z auf das Kassenhäuschen. Er drohte, die ganze Stadt zu zerstören, und wollte die Weltherrschaft an sich reissen, und es schien, als ob ihn nichts und niemand davon abhalten konnte.

Sein ehemaliger Weggefährte war gerade auf dem Weglgrösse zurück. Der Rest ist Geschichte.

Zorn hat jetzt einen Ehrenplatz im Streichelzoo, einmal am Tag Auslauf und sonntags gibts Satansbraten mit Stocki und Sosse.

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Anmassung als Chance

Schreibend immer schön nett sein, mit Kritik nie konkret werden: das Leben als Künstler könnte so leicht sein. Doch Literatur, die aus Gleichgültigkeit oder Pflicht geschaffen wird, langweilt sich selbst zu Tode. Ein Intro zum Schwerpunkt «Zorn und Protest».

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