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Dort

Es ist ein gewöhnlicher Donnerstag, als der Ich-Erzähler aus Niko Stoifbergs Kurzgeschichte auf der Strasse jener Frau begegnet, auf die er sein ganzes Leben gewartet hat. Was als Liebesgeschichte anfängt, endet in einer Katastrophe.

Dort

Es ist Donnerstag, der 12. August 1999. Träume ich? Ich will gerade aus dem Haus, und davor steht – direkt vor mir – die Frau, die ich seit Jahren suche. Suchen ist das falsche Wort; ich wusste nicht, dass ich sie suchte, wusste nicht, dass es sie gibt – und weiss doch auf den ersten Blick, dass ich auf sie gewartet habe, nur auf sie, genau auf sie. Im Traum ist alles plötzlich klar, im Traum, da gibt es keinen Zweifel, ist die Wahrheit wie ein Fieber, fällt uns an und schüttelt uns. Im Traum, da ist die Wahrheit plötzlich da, man kann sie nicht ergründen, nur erfahren, nur erleiden. Da, die Wahrheit: diese Frau. Sie ist es, sie hat mir gefehlt; ich brauche bloss eine Sekunde, um das zu begreifen – die Sekunde, die sie zu mir aufschaut, sich die Schuhe schnürt, die weissen Trimm-Trabs, auf dem Treppenabsatz, eine Armlänge vor mir. Sie trägt ein weisses Kleid, ein weisses, kurzes Kleid aus Frotteestoff. Ich schrecke auf, mehr noch als sie, lasse die Klinke gleiten. Krachend fällt die Tür zurück ins Schloss. Was jetzt? Mir ist, als ob man mir ein dunkles Tuch umbände; mir wird schwarz, ich muss mich niedersetzen, auf den speckig kalten Stein.

Was jetzt? Ich wollte lesen gehen, hab das Buch in meiner Hand. Ich schlag es auf und wieder zu; zu dunkel hier im Vorhaus, und ich hab die Sonnenbrille auf. Ich fasse mir ein Herz, trete zur Tür und öffne sie noch mal, vorsichtig, spaltbreit: Sie ist weg. Ich trete vor das Haus, schaue die Gasse rauf und runter – nichts. Ich renne auf den Platz raus, stolpere, verliere meine Brille, heb sie auf und renne weiter, um die kleine Kirche rum. Die Sonne schlägt mir ins Gesicht. Ich seh erst nichts, dann viele Leute, und dann, endlich, ihren Umriss: Ja, das ist sie, an der Ampel. Sie trägt irgendetwas Schweres, etwas zieht an ihrem Arm, sie trägt oder – sie hält ein Kind.

Die Ampel schaltet um auf Grün. Sie zieht das Kind mit sich, in Richtung See. Spaziergang. Ja, ein Kind.

Ich halte an und atme durch. Ich zögere – was mach ich hier? So was hab ich noch nie getan. Es ist, als wäre ich ausser mir, als würd ich träumen, immer noch. Ich laufe keinen Frauen nach, schon gar nicht, wenn sie Kinder haben. Wenn schon, ist es andersrum: Sie laufen mir nach, das kommt vor. Ich habe schwarze Haare, blaue Augen, das ist ziemlich selten. Schwarz und blau, das zieht sie an, das wirkt und reicht dann in der Regel, viel muss ich da nicht mehr tun. Nur diesmal – diesmal ist es anders. Diesmal muss es anders sein. Sie hat mich schon gesehen, doch, hat zu mir aufgeschaut, das schon. Doch – was? Was war? Die Sonnenbrille. Meine Brille hatt’ ich auf. Das war’s, die blöde Sonnenbrille. Sie hat mich nicht sehen können. Jetzt muss ich ihr nach. Ich muss. Mir bleibt jetzt gar nichts anderes. Ich geb mir eine Stunde Zeit, so lange, wie ich lesen wollte.

Wo sind sie? Aha, da vorn. Die Ampel ist schon wieder rot. Sie zieht das Kind mit in die Menge, die den Quai bevölkert. Ich muss warten, schaue ihnen nach. Zum Glück ist sie sehr gut zu sehen, in dem strahlend weissen Kleid, die goldenen Haare hochgesteckt. Die weisse Frau, so schaut sie aus, wie man sie kennt aus alten Sagen: Diese Frauen, die da plötzlich still und weiss am Wegrand stehen und die Männer zu sich winken – ins Verderben, notabene. Hoffentlich nicht diese hier. Die weisse Frau. La belle dame blanche. Ganz kurz hat sie schon aufgeschaut, als ich die Haustür aufstiess, doch gleich wieder weg, nicht sehr beeindruckt. Und gewunken hat sie nicht, im Unterschied zu diesen Sagen. Ich muss sie noch einmal sehen, richtig sehen – und sie mich. Das Kind rennt einer Taube nach. Vielleicht ist es ja nicht ihr Kind? Das ist bestimmt nicht ihres, nein, dafür ist sie noch viel zu jung. Sie dreht sich um – nicht nach dem Kind, nach etwas anderem –, als ob sie wüsste, dass ihr jemand nachschaut. Ganz kurz hat sie aufgeschaut, ganz kurz, erstaunt, ja doch, das schon. Das hat gereicht – mir hat’s gereicht. Vielleicht geht’s ihr ja ebenso. Gut möglich, manchmal braucht’s nicht viel. Am rechten Ort zur rechten Zeit, und schon nimmt alles seinen Lauf.

Jetzt endlich grün, ich renne weiter, da, da vorn, gleich hab ich sie. Was dann? Das Kind – ein Bub, glaub ich, und dunkelhaarig, nicht wie sie, also bestimmt nicht ihres, nein – das Kind will ständig irgendetwas, bückt sich, zerrt an ihrem Kleid. Dann, plötzlich, zieht sie es zur Seite, weg vom Quai, unter die Bäume, wo ein Mann auf einer Bank sitzt, der die beiden kennt – der Vater? Nein, der Vater ist das nicht, zumindest nicht ihr Mann, sonst würde sie nicht so viel Abstand halten, während er das Kind betatscht. Er fährt dem Buben übers Haar, doch sie will nicht mal Hände schütteln. Sieht auch wirklich komisch aus, der Typ, mit seinen Riesenschultern und dem langen, schwarzen Rossschwanz. Jetzt will er das Kind hochheben, doch es will nicht, es will weg. Sie sagen tschüss und gehen weiter – wohin gehen sie? Zum Spielplatz. Der ist ziemlich nah von dieser Parkbank, wo der Hüne sitzt – allein dasitzt und ihnen nachwinkt. Das kann meine Chance sein. Ich werde mich jetzt zu ihm setzen, ein Gespräch beginnen und dann fragen, wer die beiden sind. Die andern Bänke sind besetzt, mit Müttern, Rentnern und Touristen; ich hab also guten Grund, mich neben ihn zu setzen. Er ist mindestens zwei Meter gross, sein Rossschwanz dicker als mein Arm.

«Ist hier noch frei?»

Er zuckt zusammen. Ich auch, als er sich umdreht: Er ist kein Mann – er ist … ja, doch – er ist eindeutig eine Frau, so riesenhaft, wie ich im Leben nie eine gesehen habe. Diese Frau, sie nickt, senkt ihren Kopf, der aussieht wie aus Holz, wie eine Totempfahlfigur. Du lieber Gott. Sie nickt nochmals. Ich setze mich, strecke die Beine, blättere in meinem Buch. Du meine Güte, das Gesicht, und Hände hat sie wie ein Räuber. Greift in ihre Tasche, kramt ein Klatschheft raus, beginnt zu lesen. Nimmt mich ja beim Teufel wunder, woher die einander kennen, diese Riesin und die beiden, die jetzt auf dem Spielplatz sind.

Der Bub will auf die Rutschbahn, la dame blanche muss ihn raufheben, offenbar kann er nicht selbst hochsteigen. Wie ihr Kleid sich dehnt in ihrem Rücken, wenn sie sich so streckt! Er kreischt, beginnt wie wild zu strampeln, als sie ihn absetzen will, aus Freude oder Angst, wer weiss; ich kann nicht hören, was sie sagt.

Ich blättere in Thoreaus Walden, den ich längstens lesen sollte, schnappe hier und da was auf und schaue in die Ferne, so als ob’s was zu bedenken gäbe – in den Dunst der Berge, aber eigentlich nur auf den Spielplatz.

Sehr viel Volk hat es am Quai für Donnerstag halb fünf. Die Frauen in Spaghettiträgershirts, die Männer kurz vor dem Verschmachten, ihre Blicke schweissgetrübt. Ich wische meinen klar, damit ich durch die Menge sehen kann. Die Menge: Sie relativiert, sie macht das Individuum vergleichbar, würdigt es herab, es sei denn – da, sie hebt ihn hoch, den Buben, wieder auf die Rutschbahn. Wie ihr Kleid sich dehnt, ich kann’s nicht richtig sehen, zu weit weg. Wenn sie doch nur die Güte hätte, einmal kurz zurückzuschauen, zu der Riesenfreundin hier, dann würd sie mich hier sitzen sehen.

Viel Getier in diesem Walden, und viel Transzendentalismus. Eskapismus auch, natürlich, Zivilisationskritik.

Die Riesin schüttelt ihren Arm – ein Seemann wäre darauf neidisch –, um zwei Fliegen loszuwerden. Beide landen just auf mir; mich schaudert, und sie fliegen weg. Ich muss jetzt was zum Reden finden.

Nochmals auf die Rutschbahn. Nochmals. Eine Schaukel gäb es auch, ein Federpferd, ein Federauto, auch ein kleines Karussell. Das interessiert ihn alles nicht, er will bloss hochgehoben werden. Über dieses weisse Kleid.

Die Riesin, derweil, interessiert sich offenbar für Prominenz. Für Lady Di und ihren Tod.

Ah, doch – jetzt doch noch auf die Schaukel. Beine hoch! Das checkt er nicht, so wird er keinen Schwung aufnehmen. La dame blanche will’s ihm erklären, allerdings ohne Erfolg. Sie bindet sich die Haare neu. Auch wenn sie von hier aus nicht viel mehr ist als eine Silhouette, hab ich ihr Gesicht noch direkt vor mir, sehe jedes Detail. Ein Gesicht, so fein wie mit der Tuschfeder hingemalt, mit hohen Wangen, Augenbrauen, die sich kurz zusammenzogen, als sie zu mir aufgeschaut hat. Eine Offenbarung war das, wie sie zu der Tür hochschaute, eine Offenbarung, die zu ignorieren Frevel wäre. Ja, ich weiss, warum ich hier bin, spüre, dass es richtig ist, ich fühle mich grossartig – so wie man sich fühlt, wenn man voraussieht, dass man sich schon bald noch viel, viel besser fühlen wird. Grossartig.

Ich muss was zum Reden finden. Lady Di wird umgeblättert, es folgt … noch mehr Lady Di. Die Details über ihren Tod, zwei Jahre ist das jetzt schon her, sieht krass aus, dieser Unfallwagen. Thoreau lästert über Spiesser. Dodis Yacht, auf deren Deck sich jetzt die beiden Fliegen setzen. Sie versucht sie wegzuwischen, doch sie sind gleich wieder da; die Yacht scheint ihnen zu gefallen. Sie hat Haare auf den Fingern! Trägt eine geblümte Bluse und die Art von Cargohose, wie sie Fidel Castro hat. Die beiden Fliegen landen auf der Spitze ihres Schuhs, Mephisto, Grösse vier- bis fünfundvierzig, mindestens, grösser als meine. Sie kreuzt ihre Beine, scheucht die Fliegen auf, doch diese landen auf dem andern Schuh, landen zu zweit, als Tandem – kopulieren. Zwei nervöse schwarze Punkte, kurz in Seligkeit erstarrt. Die Riesin schüttelt ihren Fuss, die Fliegen schiessen auf, noch immer festgekoppelt aneinander, torkeln durch die Luft und landen ganz genau am gleichen Ort. Ich schaue ihnen zu, die Riesin merkt’s und schaut zum ersten Mal kurz zu mir hin, läuft tiefrot an, schlägt ihre Illustrierte zu. Sie wedelt damit rum, kreuzt ihre Beine umgekehrt, sie scharrt im Kies, stampft mit den Schuhen, doch die Fliegen bleiben stets bei ihr, ein surrendes Vehikel, setzen sich auf ihre Füsse, Beine, Arme, mitten ins Gesicht. Das ist jetzt dunkelviolett, und plötzlich steht sie auf – mit einem Ruck, wie eine Marionette –, murmelt irgendetwas Unverständliches und stakst davon.

Bevor ich etwas sagen konnte. Idiot, jetzt ist’s zu spät. Bevor ich fragen konnte, was sie hier so macht, ob sie allein sei oder wer die andern seien, dieser kleine Bub da drüben, ob sie die Grossmutter sei. So irgendetwas hätte ich sie fragen können, kein Problem, wenn ich nur nicht gewartet hätte, Idiot, ich, bis sie geht. Jetzt ist sie weg. Die Chance auch. Das war sie, die Gelegenheit.

Ich bleibe sitzen, ziemlich ratlos, bis dann auch die beiden gehen, unfreiwillig zwar, der Bub – sie zieht ihn mit sich, weg vom Spielplatz und zurück zum Uferquai. Sie gehen nicht der Riesin nach, sondern dem Quai entlang stadtauswärts, und ich latsche hintendrein, wie ein Schlafwandler, leicht belämmert – was bleibt mir denn anderes? Ich weiss nicht wohin mit den Füssen, derart langsam gehen sie. Wohin wohl? Doch noch nicht nach Hause? Ständig sieht der Kleine etwas, will nach links, nach rechts, zurück, sie lässt ihn streunen, fast wie einen Hund, und ziemlich unbekümmert. Was, frag ich mich, wenn er auf dem Quairand ausrutscht, in den See fällt?

Einsam wirkt sie, so von hinten, unbeteiligt, abgehoben, fast wie wenn sie schweben würde.

Irgendwann sind wir dann bei der Volière, beim Seebad. Sie gehen weiter, als ich dachte, vielleicht ins Naturmuseum? Hier hat’s jetzt kaum noch Touristen; selbst wenn ich viel Abstand halte, wird sie mich demnächst entdecken. Und was dann? Ich weiss es nicht. Seeauswärts kräuselt sich das Wasser, sanfter Wind kommt auf und schiebt die Quellwolken zusammen, türmt sie auf zu grossen Cumuli, aus denen sich dann wiederum, sobald die Kirchenglocken ruhig sind, ein Gewittersturm entlädt – in etwa einer Stunde, schätze ich, so ist das jeden Abend.

Schritt für Schritt entvölkert sich der Quai, seh ich die beiden besser, bald sind sie allein vor mir. Der Kies geht über in Zement, in hohl klingende Fliesen, über die sich Trauerweiden beugen. Unter einer dieser Weiden bleiben sie jetzt plötzlich stehen, als der Bub auf einen Schwan zeigt. Sie schwingt ihre Tasche von der Schulter, kramt etwas hervor. Ich muss mich jetzt entscheiden. Einfach weitergehen kann ich nicht, einfach an ihr vorbeispazieren – dann lass ich sie hinter mir. Entweder sprech ich sie jetzt an, oder ich setze mich ans Ufer.

Gut, ich setze mich ans Ufer. Sieht bestimmt recht läppisch aus, wie ich die Beine baumeln lasse, beide Hände abgestützt, damit ich nicht vom Quairand gleite. Läppisch ist’s und unbequem und nicht ganz passend für mein Alter. So sind wir mit 15 hier am See gesessen, extra easy, haben möglichst noch geraucht. Wie 15, so komm ich mir vor, je nun, sei’s drum, was soll ich sonst? Mein Hintern wird ganz staubig sein, wenn ich aufstehe, das ist klar. Und sie? Sie holt jetzt Brot hervor für diesen Schwan, man hört es rascheln. Ich schlage den Walden auf, versuch es mit der einen Hand – und prompt verlier ich fast den Halt, kann gerade noch hochrutschen. So. Ich muss das rechte Bein über das linke legen, Buch darauf, in die Kniekehle, ja das geht. So hält es, so kann ich mich halten. Locker soll es wirken. Gut. Und dann kommt dieser Schwan doch wirklich hierher, auf mich zugeschwommen, denkt wohl, ich sei der, der Brot hat. Kommt geschwommen, und ich glaube, dass der Bub jetzt auch zu mir läuft. Starre konzentriert ins Buch. Der Schwan reckt seinen Hals; ich habe nichts für ihn. Nein, nichts! Die beiden kommen tatsächlich zu mir. Der Schwan scheint gar nichts zu begreifen. Sie sind weder links noch rechts, sie müssen irgendwo in meinem Rücken sein, sonst säh ich sie. Warum bin ich derart nervös? Ich bin sonst nie nervös. Nie, nie.

«So sieht er lustig aus, ja, gell.»

Das ist sie. Das ist ihre Stimme. Ihre Stimme, hinter mir. Es dauert, bis ich merke, was sie meint: den Schwan, er taucht nach etwas – kippt vornüber, rudert, wackelt. Lustig, ja, das Hinterteil. Der Bub zumindest gluckst vor Freude.

«Willst du ihm was geben?»

Ihre Stimme, warm und voll; man fragt sich, wo sie diesen Ton hernimmt, so zierlich, wie sie ist.

«Komm, schau.»

Der Bub gluckst vor Vergnügen. Über meine Schulter, aus dem Augenwinkel seh ich ihn; er kauert über einem Säckli, wühlt darin herum wie wild, und ihre Hand, die seh ich auch, die nimmt ihm jetzt das Säckli weg.

«Komm, schau, gib her, ich kann’s dir zeigen.»

Fein und weiss die Hand, und warm und voll die Stimme, wunderschön. Dann fliegt ein Brotstück durch die Luft; der Schwan schwimmt hin und schnappt es sich. Ein zweites Brotstück folgt.

«Das hat er gern. Siehst du? Jetzt darfst du auch.»

Der Bub macht wieder einen Gluckslaut, und das nächste Brotstück landet auf der Mauer statt im See. Der Schwan bemerkt es nicht einmal.

«Du musst ein bisschen weiter werfen. Schau.»

Eins fliegt ins Wasser raus, das nächste wieder auf den Quai.

«Viel weiter. Noch ein wenig weiter.»

Sie bemüht sich um Geduld, doch helfen tut es leider nichts: Es kommt zwar noch mehr Brot geflogen, drei, vier Stücke gleich aufs Mal, doch keines schafft es bis ins Wasser, alle landen auf dem Quai, das eine sogar gleich bei mir.

«Pass auf, du kannst es nicht dem Mann an seinen Rücken werfen, gell.»

Ich höre ihn hertapsen.

«Lass den Mann da lesen, Milo, gell.»

Der Bub steht direkt hinter mir. Soll ich nach diesem Brotstück greifen, das noch immer neben mir liegt, und ihm zeigen, wie man wirft? Soll ich was zu ihm sagen und dann sie ansprechen? Soll ich das? Mein Hosenboden juckt, ich wippe hin und her und atme durch.

Dann klingelt es. Ihr Telefon. Sie nimmt es ab, läuft weg, wird leiser. «Ja, am See. Nein, hat er nicht. Ja, hab ich alles mit dabei…»

Jetzt muss ich mich einfach umdrehen. Tu es, sehe zweierlei: Erstens, sie läuft tatsächlich weg. Zweitens, der Bub hat blaue Augen, und er hat pechschwarze Haare. Blauer, schwärzer noch als meine. Vielleicht ist das seine Schwester – Nanny, Tante, was auch immer –, doch bestimmt nicht seine Mutter. Nein, ihr Sohn kann das nicht sein, so schwarz, wie seine Haare sind. Ich schätze ihn auf etwa vier. Er staunt mich an, den Mund weit offen; ich wohl ebenso, schau über ihn hinweg zu ihr, wie sie davongeht, und zurück zu ihm.

Ich dreh mich wieder um. Die Wellen klatschen unter meinen Füssen. Schleierwolken ziehen auf. Kein Mensch mehr weit und breit, weder quaiauf- noch -abwärts, nur die beiden. Sie hat offenbar keine Bedenken, ihn allein zu lassen, will in Ruhe reden können, nehm ich an, mit wem auch immer. Denkt sich wohl, dass ich, solang ich hier bin, schon ein bisschen schaue, sehen würde, wenn er sich zu nah ans Wasser wagen sollte. Ob sie wohl gemerkt hat, dass ich ihnen nachgelaufen bin? Dass ich derselbe bin, vor dessen Haustür sie die Schuhe band? Wohl kaum. Ich könnte ihm das zeigen, mit dem Brot, wie man das macht. Und dann, wenn sie zurückkommt, fragen, ob das denn ihr kleiner Sohn sei oder doch der Göttibub, wie alt er sei et cetera. Wie käme das wohl an bei ihr? Als freundlich oder unverschämt? Ganz kurz hat sie nur aufgeschaut zu mir und dann gleich wieder weg. Ich sollte mir nicht viel einbilden. Das ist anders hier als sonst, und sie ist anders als die andern. Merci, würde sie wohl sagen, merci, schönen Abend noch.

Ich schaue noch einmal nach ihr, sie schlendert seeauswärts, ich kann schon nicht mehr hören, was sie sagt. Der Bub scheint hin- und hergerissen, zwischen ihr und Schwanenfüttern. Ja, natürlich lässt sie ihn nur hier, weil sie ihn sicher glaubt. Wenn er zu nah ans Wasser kommt, kann ich ihn jederzeit aufhalten. Und selbst wenn er stolpern sollte, in den See, dann säh ich das. Ich sähe das und würd ihn retten.

Ein Gefühl steigt in mir auf wie Dampf, wie eine warme Wolke, quillt aus meiner Brust, füllt mir den Kopf – jetzt weiss ich, was ich tun muss.

Hier, das Brotstück: Ich heb’s auf und halte es dem Kleinen hin. Er kommt getrippelt, ohne Angst. Ein letztes Mal schau ich zu ihr: Sie ist am Telefon, noch immer, von uns beiden abgewandt. Der Kleine schaut mich fragend an, greift nach dem Brot und ich nach ihm. Ich fasse ihn um seinen Bauch und stosse ihn vom Mauerrand.

Der Aufklatsch – leiser als erwartet. Weder hat der Bub geschrien, noch hat sie sich umgedreht, noch kann ich sehen, was sich vor der Mauer unter mir abspielt. Stattdessen schrecke ich zurück, erstarre, bis mein Hirn mir zu verstehen gibt: Jetzt bist du dran. Jetzt ist dein Auftritt fällig, spring. Ich springe auf, brülle «Das Kind!», vergesse, mich zu ihr zu drehen, mir das T-Shirt auszuziehen, den Hechtsprung, vergesse alles, platsche bäuchlings in den See. Ein Kloss rammt sich in meinen Magen, Wasser sticht mir in die Nase, schwarzgrün, voll mit dumpfem Lärm, ich schnelle wieder hoch ins Licht, Geschrei, verliere mich im Dunkel, schlage um mich, schlage an, bekomme was zu fassen, Haare, reisse dran, das Kind!, das Kind!, es zappelt, ich kann es kaum halten, schlucke Wasser, würge, schlucke, einen Schwall Erbrochenes, ich lasse los, will hoch, nur hoch, ans Licht und an die Oberfläche, kämpfe um mein Leben, strample, hechle, Luft!, jetzt endlich Luft!, doch gleich zieht es mich wieder runter, ein Gewicht an meinem Bein schlingt sich um mich, ich heule auf, versuch mich loszuwinden, rudere und ringe, rettungslos, reisse das Bein nach oben, japse, stosse plötzlich an die Mauer!, grapsche, glitsche ab, grapsche nochmals und krall mich in den Stein, ich krümme mich, greife nach unten, will das Bein hochziehen und den Bub, versuche ihn zu halten, presse ihn an mich, wuchte ihn hoch, er droht mir zu entgleiten, klemme seinen Hals in meinem Ellenbogen fest, er gurgelt, drücke ihn gegen die Mauer, quetsche ihm ein Knie zwischen die Beine, er verkrampft sich, zuckt, dann spüre ich, wie er erschlafft, ich streiche ihm mit meiner Wange seine Strähnen aus der Stirn, seh ihm in seine blauen Augen, sehe, wie sie enger werden, sehe, wie ein weisser Arm vom Quairand nach ihm runterlangt, ihn hochreisst, über mich hinweg, hab keine Kraft mehr, mitzuhelfen, keine Kraft, den Kopf zu heben, falle ab, zurück ins Wasser.

Irgendwann, wohl nicht viel später, hocke ich auf der Quaimauer, warte, bis der nächste Krampf das Blut in meinen leeren Kopf treibt, saure Galle in den Mund. Gleich neben mir kniet sie, den Bub an ihre weisse Brust gedrückt. Sie kniet in einer Wasserlache, die nach allen Seiten ausläuft.

Wind kommt auf, es fallen Tropfen, Wetterleuchten überm See.

Ein Hund läuft her, ein Herr mit Stock, dann finden sich die Gaffer ein. Der Hund bellt los, der Herr beruhigt ihn, manche zücken Telefone. Wolken platzen, Schirme springen auf, die Leute rennen weg. Die Sturmleuchte beginnt zu blitzen, Donner folgt, eine Sirene, Streiflicht färbt den Regen blau, die Ambulanz biegt auf den Quai, drei Sanitäter stürmen raus, versuchen Frau und Kind zu trennen, schaffen es nur mit Gewalt, dann stürzen sie sich auf das Kind, der eine drückt, der andre bläst, der dritte reisst ein Set aus Plastikröhren aus der Notfallbox. Sie reden kaum, hantieren still, die Gaffer drängen sich nach vorn, der Hund dreht seine Runden, schnüffelt, und sein Herr klopft mit dem Stock nervös an seinen Orthoschuh. Die Sanitäter stehen auf, die Gaffer werden abgewiesen, Absperrband wird ausgerollt, zwei Streifenwagen fahren vor. Sie kniet noch immer neben mir, allein, in dieser Wasserlache. Eine Polizistin eilt zu ihr, ein Polizist zum Kind. Der alte Herr hinkt weg, winkt seinen Hund zu sich, gibt ihm drei Klapse. Mir wird schwarz, das Kind ist tot.

Diese Kurzgeschichte ist ein für diesen Vorabdruck ­geänderter Ausschnitt aus Stoifbergs Debütroman «Dort», der am 18. Februar 2019 bei Nagel & Kimche erscheint. Am 19. Februar ist Buchvernissage im Neubad (Luzern) mit Vera Schnider an der Harfe.

Illustrationen: Christina Baeriswyl

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