Ein einig Volk von Kriegern?
Als Wink Gottes deutete Bullinger die eidgenössischen Schlachtsiege, und Lavater besang die heldenhaften Schweizer Kämpfer in pathetischen Liedern: Seit dem Mit-telalter prägt das Reden, Schreiben und Singen vom Krieg das helvetische Selbstbild – Anklänge daran sind bis heute zu vernehmen.
Das Reden und Schreiben vom Krieg verfügt in der Schweiz über eine lange Tradition. Das Interesse gilt dabei ausschliesslich dem eigenen Krieg. Man schreibt und singt von den eigenen Schlachten, den denkwürdigen Siegen und – wo es nicht anders geht – den ruhmreichen Niederlagen. Aber diese Rede vom Krieg hat im Laufe der Zeit unterschiedliche Funktionen erfüllt. Und sie hat im schweizerischen Selbstverständnis eine je unterschiedliche Bedeutung gehabt.
Die Schlacht als Gottesurteil (15./16. Jahrhundert)
Als Heinrich Bullinger in seiner 1528 erschienenen Streitschrift «Anklag und ernstlich Ermanen Gottes allmächtigen zuo einer gemeinen Eydgnosschaft» die katholischen Innerschweizer zum neuen Glauben bewegen will, bedient er sich einer uns zunächst unverständlichen Argumentation. Er lässt Gott selber sprechen, und dieser erzählt ihnen die Geschichte ihrer Schlachten. Aus der langen Reihe seien hier nur jene bei Sempach und Därstetten zitiert: «Zuo Sempach gab ich üch Hertzog Lüpolden selbs in üwer Händ mittsampt vierhundert gekrönten Helmen. Die ihr uff die Waalstat leytend» und, obwohl ihr zahlenmässig weit unterlegen wart, gab «ich üch doch der eeren und des grossen guotes, das ir do gewunnent. Noch grössers hab ich unlängst davor üch lieben sönen von Zürich geton», bei Därstetten. Trotz geringer Zahl und ohne Hauptmann habt ihr gesiegt, «dann ich denselben hintan gefüert hatt, dass ich allein üwer houptman wäre». Und die Quintessenz dieser langen Aufzählung: Die Wunder, die Gott an den Israeliten vollbracht habe, würden von aller Welt bestaunt – doch «nitt minders hab ich mit üch verwürckt».
Die Eidgenossen also das aktuelle «auserwählte Volk»? Ein antieidgenössisches Traktat von 1505 legte ihnen jedenfalls in den Mund: «Wir sind jenes auserwählte Volk, welches das Volk Israel präfigurierte und welches der allmächtige Gott gegen
Könige und Fürsten verteidigte, da es seine Gesetze und seine Gerechtigkeit beachtet.» In der Tat gibt es seit den Burgunderkriegen zahlreiche Zeugnisse für dieses Selbstverständnis der Eidgenossen. Das «Spiel von den alten und jungen Eidgenossen» von 1514 lässt erahnen, wie es dazu kam: Es argumentiert mit der Umkehrung der althergebrachten christlichen Ständeordnung. In der Eidgenossenschaft seien die einfachen, gottesfürchtigen und rechtschaffenen Bauern an die Stelle des pflichtvergessenen Adels getreten. Das sei keinesfalls gegen die göttliche Ordnung, sondern – gerade umgekehrt – von Gott gewollt: «Denn Paulus eigentlich gschprochen hatt, Gott hat die Unedlen usserwellt, darmitt der edlen hoffart werd abgstellt» (1. Kor. 1, 27 f.). Und der Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme? Die zahlreichen gewonnenen Schlachten: «Bitz her mit krieg wir hand gewunnen.» Im Schlachtensieg erkannte man nämlich nichts weniger als ein Gottesurteil zugunsten der Eidgenossen. Diese Auffassung ist mehrfach bezeugt. Der reichstreue Humanist Jakob Wimpfeling stellte 1505 fest: «Ihr mögt der festen Überzeugung sein, dass ihr aufgrund eures Sieges die Gnade und Freundschaft Gottes sicher besitzt.» Doch bedenkt das Ende, denn Gottes Rache schreitet langsam voran.
Der Rede vom Krieg kam also im Selbstverständnis der Eidgenossen eine zentrale, legitimierende Bedeutung zu. Wenn Heinrich Bullinger die Kriegsgeschichte als Hauptargument der «Anklag Gottes» einsetzte, dann konnte er mit einer entsprechenden Wirkung rechnen.
Die Schlacht als Ausdruck schweizerischer Eigenart und Tugend (18. Jahrhundert)
Als 200 Jahre später Johann Jakob Scheuchzer aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Forschungen festzustellen glaubte, dass die Schweizer allein wegen des niedrigen atmosphärischen Drucks in der Höhe sich von allen Völkern unterschieden und
einen eigenen alpinen Menschenschlag bildeten, den Homo alpinus, da griff er zur Untermauerung seiner Ansicht auf das überkommene Geschichtsbild, vorwiegend auf die Schlachten, zurück. Diese dienten nun nicht mehr als Beweis für die göttliche Auserwähltheit, sondern bloss als konkrete Belege unter anderen für die typischen Charakteristika der Schweizer, die er wie folgt
beschrieb: «gestählt, stark, gesund, rauhärig, frisch, arbeitsam, geduldig, ausharrend, auch hartnäckig, gutmütig, zu Kunst und Wissenschaft, vorwiegend aber zum Kriege geschickt».
Später im Jahrhundert hatten die aufklärerischen Patrioten, die sich in der 1764 in Schinznach gegründeten Helvetischen Gesellschaft zusammenfanden, ein grosses Ziel vor Augen, nämlich über die einzelörtischen Interessen hinweg die Ausrichtung auf das eine, gemeinsame Vaterland zu fördern.
In der Geschichte erkannten sie einen «Experimentalcours der Sittenlehre, der Staatskunst und des guten Geschmacks». Hierfür boten das überkommene Geschichtsbild und Scheuchzers Ansichten eine ideale Grundlage. Zwanglos liess sich in volkserzieherischer Absicht das Bild von den Alten Eidgenossen um alle nur möglichen und wünschbaren Tugenden erweitern: bescheiden und massvoll, gesund und kräftig, arbeitsam und wirtschaftlich autark, redlich und gerecht seien sie gewesen, rechte Herrschaft hätten sie anerkannt, gegen Unrecht und Feinde hätten sie unerbittlich, tapfer und todesmutig gefochten. Der Rede vom Krieg kam dabei eine besondere, aber zusehends ambivalente Rolle zu. Da «der bestäubte Held» nicht mehr selber vor die Jungen treten konnte, wie zu jenen «güldnen Zeiten», suchte man nach anderen Vermittlungsmöglichkeiten und fand sie im Lied. 1767 erschienen die «Schweizerlieder» von Johann Kaspar Lavater, die so erfolgreich waren, dass sie zahlreiche Neuauflagen erfuhren. Eine ganze Abteilung war den Kriegsliedern vorbehalten. In ihnen entfaltete Lavater in grellen Tönen, durchmischt mit Kraftversen, Gemälde der alten Schweizer Schlachten in der Form von Johann Wilhelm Ludwig Gleims damals beliebten preussischen Kriegsliedern. Indes – als weltoffene Aufklärer wollten die Mitglieder der Helvetischen Gesellschaft eine «edle Vaterlandsliebe» propagieren, die sich an all dem Guten erfreute, das auch in andern «Vaterländern» geschah, und nicht eine «gemeine Vaterlandsliebe», die nur dem eigenen galt. Kriegslieder dienten aber unverkennbar der letzteren. Lavater erkannte den Widerspruch selbst und distanzierte sich schon zwei Jahre später von seinen Kriegsliedern, um fortan nur die «edlen Tugenden» zu besingen. Das falsche Pathos der in Schinznach vor einer gefühlsseligen, perückierten Zuhörerschaft vorgetragenen Abhandlungen über eidgenössisches Heldentum ist damals auch einem fremden Gast aufgefallen, der konstatierte: «Wenn das Vaterland in Gefahr ist, werden diese Patrioten nicht die Männer seyn, die es retten.»
Die Schlacht als Projektionsfläche nationalen Wehrwillens (19./20. Jahrhundert)
Im 19. Jahrhundert bildeten sich Nationalstaaten heraus. Die Schweiz teilte diese Entwicklung. Im auch hier erwachenden
Nationalbewusstsein kam dem Geschichtsbild der Alten Eidgenossen eine tragende Bedeutung zu. Aber im Zeitalter des Nationalismus ging es nicht mehr um die offene «edle Vaterlandsliebe» der Helvetiker, sondern eher um die «gemeine». Das Geschichtsbild verengte sich zusehends auf ein Reden vom Krieg; die zahlreichen Tugenden, die von den helvetischen Aufklärern bei den Vorfahren gepriesen worden waren, verblassten oder wurden nur noch so weit gewürdigt, als sie dem Wehrwillen zudienten. In den seit 1824 stattfindenden militärischen Übungslagern, die über die Kantonsgrenzen hinweg junge Bürger zusammenführten, wurden Predigten gehalten, wie jene über «Die Waffenrüstung des Schweizers». Diese bestehe aus Eintracht, symbolisiert in der – damals neuen – gemeinsamen Fahne, Mut, wie ihn die Vorväter in ihren Schlachten bewiesen hätten, und Religion, denn nur wegen ihrer rechten Glaubensgesinnung hätten jene gesiegt. Ganze Liedersammlungen wurden zum Anlass gedichtet, etwa «Lieder zu Ehren und Freude für Schweizer Wehrmänner» oder «Lieder für eidgenössische Krieger», die der aktuellen Generation alteidgenössisches Heldentum aufpfropfen wollten. Durch den heroischen Patriotismus, der vor allem an den Schützenfesten gepflegt wurde, wo die männliche Nation mit der «Nationalwaffe», dem Stutzer, zusammenfand, wie durch die frühe Militärorganisation wurde das gesamtschweizerische Nationalbewusstsein entschieden gefördert. Bezeichnenderweise kam es nach den Kämpfen um die Gründung des schweizerischen Bundesstaates erst anlässlich der überwältigend gestalteten Jubiläumsfeier einer Schlacht, jener von Sempach, 1886 zur Versöhnung zwischen der liberalen und der konservativen Schweiz.
Lieder jener Zeit werden zum Teil bis heute gesungen: das Sempacherlied «Lasst hören aus alter Zeit, von kühner Ahnen Heldenstreit» und «Rufst du, mein Vaterland», das bis 1961 als Nationalhymne diente und die Sänger sich «freudvoll zum Streit» erklären lässt, «nie vor Gefahren bleich, froh noch im Todesstreich» wie damals zu Sankt Jakob – wo ein eidgenössischer Haufen 1444 gegen ein ganzes Armagnakenheer angetreten war. Die Rede vom Krieg dominierte vor und während des Zweiten Weltkriegs im Zeichen der «geistigen Landesverteidigung»: Sankt Jakob stand als Chiffre für einen «hohen Eintrittspreis», Sempach für die Siegeschance bei entsprechender Opferbereitschaft auch in Inferiorität. Sie hat bis in die 1980er Jahre nachgewirkt, wo es im Zusammenhang mit Sempach nochmals zu militärhistorischen und ideologischen Scharmützeln um längst aufgegebene Positionen kam.
Geprüft wurde diese Projektion auf die «Heldenzeit» in der Realität – Gott sei’s gedankt – nie. Und so bleibt ungewiss, ob man mit diesem heroisch-patriotischen Geschichtsbild im Ernstfall nicht einer Selbsttäuschung erlegen wäre, wie es kritische Stimmen immer wieder monierten. Nur jene von Jeremias Gotthelf sei hier zitiert, der das Schützenfest von Sankt Jakob 1844 mit feiner Ironie bedachte. «Trinksprüche donnerten aus allen Ecken wie Kanonendonner in der Schlacht. (…) Jetzt senkte sich eine erhabene Stimmung über das Volk, jeder fühlte sich ein Held, und der Mut trat zu den Augen aus, kuraschiert ins Feld hinaus, wo kein Feind war, wenn aber einer da gewesen wäre, so hätte man erfahren, was aus Mut und Feind geworden wäre.»