Susanna Schwager:
«Ida. Eine Liebesgeschichte»
Mit den beiden Lebensbeschreibungen ihrer Grosseltern mütterlicherseits («Fleisch und Blut», «Die Frau des Metzgers») und mit zwei Portraitbänden über Frauen und Männer jenseits der 80 («Das volle Leben») setzte die Zürcher Autorin Susanna Schwager Meilensteine der oral history, dieser Gattung zwischen Geschichte, Journalismus und Literatur. Ihr neues Buch verbindet die Souveränität, die sich Schwager im dokumentierenden Schreiben angeeignet hat, mit einem Schritt hinein in Phantasie und Fiktion: «Ida» ist die präzise recherchierte Biographie von Susanna Schwagers Grossmutter väterlicherseits, zugleich aber ein Roman, der mit Erzähltechniken experimentiert und Überlieferungslücken fabulierend füllt.
Das Buch besteht aus lauter Liebesgeschichten und erzählt doch viel von Kälte und Gewalt. Ida Silber wird kurz nach 1900 in einer Gegend im Hinterthurgau geboren, die der «Heilige Strich» genannt wird, weil der Ehrgeiz des Pfarrers darin besteht, möglichst viele junge Frauen dem Kloster zuzuführen. Auch Ida verschreibt ihr Herz schon früh dem Herrgott, doch die Umstände wollen es, dass sie Johann Schwager heiratet und mit ihm nach Oerlikon zieht, wo er in der Maschinenindustrie als Stanzer Arbeit findet. Dass sie ihren sechs Kindern Zärtlichkeit und materielle Freuden fast durchwegs versagt, liegt daran, dass Ida diesseitige Lebenslust abtötet, um den Idealen der
katholischen Kirche zu huldigen. Der letzte Teil des Romans schildert, wie der Vater der Autorin sich aus dieser Erstarrung freikämpft. Das ist schmerzhaftes Familienschicksal, vor allem aber auch unabdingbare Zeitgeschichte für Nachgeborene. Und heilsam für all jene, die meinen, die heutigen Probleme der Spass- und Kuschelgesellschaft seien am besten durch eine Rückbesinnung auf alte Werte und Ideale zu kurieren.
Ein weites, grossherziges Buch, das auch für jene Liebe Platz hat, die die Autorin als Kind für diese dem Leser so unheimlich gewordene Grossmutter empfand. Ein literarisches Kunststück, weil es Schicksale nicht auf ein Schnürchen reiht, sondern die Ungewissheit darüber, wie es «wirklich» war, in vielfältigen Perspektiven, Verschachtelungen und Quellentexten spiegelt. Schon die Kapiteltitel beten (wie der greise Johann) das «Ave Maria» rückwärts, als wollten sie einen Bann brechen. Es beweist Mut, so offen und tief über die eigene Familie zu schreiben. «Ida» macht neugierig darauf, was und wie Susanna Schwager dereinst über die eigene Generation und diejenige ihrer Tochter schreiben wird.
Susanna Schwager: Ida. Eine Liebesgeschichte. Gockhausen: Wörterseh, 2010.