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Die Welt fassen

Der Berner Schriftsteller Giuliano Musio

Ich treffe Giuliano Musio im «Rock-Café». In Musios Romandebüt «Scheinwerfen» heisst das Berner Lokal mit dem liebenswert oxymoronischen Namen «Florida-Rock», was irgendwie fast besser passt. Hier spielen Anfang und Ende des Romans. Vor uns stehen zwei Bier, wie sie Musios höchst amüsanter Protagonist Res Kobel nie bestellt, da er die fremdländische Marke nicht aussprechen kann. Musio ist 38, und obwohl er jünger wirkt, mag das Etikett «Nachwuchstalent» nicht recht passen. Vielmehr habe ich, spätestens als das Gespräch aufs Schreiben kommt, den Eindruck, einem alten Hasen gegenüberzusitzen. Musio weiss, was er tut; ansonsten unterlässt er es gekonnt. Im Leben wie im Schreiben. Das hat natürlich Geschichte. Dass Musio sein Geld als Korrektor verdient, ist nur deren augenfälligster Aspekt.

Den Drang zum Schreiben hat er früh gespürt: Im Kindergarten wurde «Jim Knopf» vorgelesen, in kleinen Portionen, über ein Jahr verteilt. Wie sich da Stück für Stück eine kunstvoll ausgedachte Welt entfaltete, aus nichts als Worten, vielschichtig genug, sich darin heimisch zu fühlen, gab ihm den Wunsch ein, dergleichen selbst zu versuchen. Diese Schöpfungslust, dieses Vergnügen am symphonischen, nach vorne offenen Erzählen, treibt Musio noch heute. In «Scheinwerfen» hat er sich diesem Vergnügen in mitreissender Art und Weise hingegeben. Da bedient sich jemand der Sprache, um die Welt seiner Vorstellung so zu fassen, dass sie angeschaut werden kann. Schreiben als «Schöpfung und Besitznahme» hat Sartre das genannt.

Doch die Besitzansprüche sind durchaus gegenseitig, und je rückhaltloser ein Autor die Sprache ergreift, desto stärker packt die Wirklichkeit von der anderen Seite zu. Musio weiss ein Lied davon zu singen. Jahrelang führte er akribisch Tagebuch über sein Leben und über alles, was sich im Freundes- und Bekanntenkreis ereignete, samt ausführlichem Register aller 1427 handelnden Personen. Der Eskalationslogik der Selbstverschriftlichung folgend geriet er dabei unangenehm nahe daran, sich im Geschriebenen zu verlieren. Also kein romantisch-ironisches Schwelgen in der Poetisierung des eigenen Lebens. Eher Sartre: «Indem ich schrieb, existierte ich (…), aber ich existierte bloss, um zu schreiben.» Kein forscher Ritt über den Bodensee auf den Schwingen der Selbstverkennung, sondern mühsame Durchquerung des offenen Wassers. Doch natürlich war das auch eine hervorragende Schule – von Fingerübung mag man angesichts des rund sechzigbändigen Journals nicht sprechen –, und zudem gewann sich Musio auf diese Weise einen gewaltigen Vorrat an Figuren und Geschichten zur späteren Verwendung.

2003 kam er mit einem Auszug aus seinem Romanprojekt «Fieberschläfer» in die Endrunde des Open-Mike-Wettbewerbs der Literaturwerkstatt Berlin. Sofort umwarben ihn renommierte Agenturen, die Sache schien geritzt – Ende gut, alles gut. Doch es kam anders: Die Agentur, für die sich Musio dann entschied, konnte das Manuskript letztlich nicht an den Mann bringen, jedenfalls nicht bei den grossen Verlagen, und bei den kleineren versuchte sie es fatalerweise nicht. So scheiterte «Fieberschläfer» auf den letzten Metern – das Ufer erneut in weiter Ferne. Eine Zeit lang schrieb Musio gar nichts mehr. Ein Freund, mit dem er sich bis dahin einmal die Woche zum wechselseitigen Gegenlesen frischer Texte getroffen hatte, konnte ihn jedoch bewegen, den Jour fixe nicht ganz fallenzulassen – und wenigstens einmal im Monat etwas Neues zu liefern. Musio hatte sich da schon frustriert in sein Scheitern gefunden, mit der paradoxen Folge, dass sich jetzt, in der Narrenfreiheit der monatlichen Treffen, im toten Winkel seiner Selbstzensur, ein Neuanfang seinen Weg bahnte. Incipit «Scheinwerfen».

Der überzeugend konstruierte Ensemble-Roman, im Frühjahr 2015 erschienen, ist gerade in die zweite Auflage gegangen und findet im gesamten deutschsprachigen Raum begeisterte Leser und Rezensenten. Giuliano Musio ist endlich da, wo er hingehört – und fraglos bleiben wird: im Licht der literarischen Öffentlichkeit.

Giuliano Musio: Scheinwerfen. Wien: Luftschacht, 2015.


Jan Meyer-Veden
ist Autor und Übersetzer. Er lebt in Bern.

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