Eleonore Frey:
«Waldleute»
Wir hatten uns am Waldrand versammelt. Wir wussten: Die Stadt mit ihren Strassen und Wegweisern lag hinter uns. Für immer.» Eine neugierige Erzählerin verfolgt ihren Untermieter, einen älteren Herrn, zu einer Versammlung am Waldrand. Etwa zwanzig alte Menschen treffen sich dort, um gemeinsam in den Wald zu gehen, «der nicht schlicht ein Wald war, sondern […] ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod», in das auch die Erzählerin, plötzlich Teil der Gruppe, gezogen wird. Mit dem Eintritt in den Wald müssen die Menschen ihre vertraute Welt verlassen – es gibt dort keine Wege mehr, nur noch Erde, Bäume, Wind, Finsternis und Schönheit. Anfänglich von einem Waldhüter geführt und schliesslich doch ganz verlassen bewegen sich die nun Namenlosen durch die Natur bergauf in Richtung ihres Lebensendes.
Eleonore Frey beschreibt Menschen, die vor der vielleicht grössten Aufgabe eines jeden Lebens stehen – es irgendwann loszulassen.
Die Alten sind auf diesen Weg vorbereitet, im Amtshaus der Stadt hatte man den über Siebzigjährigen zu verstehen gegeben, dass es Zeit sei, das Leben zu verlassen, bevor sie für die Jüngeren zur Last würden. Ohne jegliches Interesse an dem, was ihnen geschieht, lassen sie sich in den Wald führen. Aus ihrem «geschäftigen Leben» begeben sie sich in die Natur, die all ihre kulturellen Sinnkonstruktionen sichtbar und zweifelhaft werden lässt: den Glauben an die Seele und ein Jenseits, an die Verlässlichkeit von Wort und Schrift und den Willen, sich zu erinnern, als Voraussetzung für das Leben. Der Wald lehrt die Menschen, nicht(s) mehr zu wollen. Erinnerungen an Kindheit und Heimat, all das (vermeintliche) Wissen über die Welt und ihre Ordnung lösen sich nach und nach auf – bis das Vergessen kein Versagen mehr ist, «sondern eine Erlösung von uns selbst».
In einer Situation, in der keine Zukunft mehr näherkommt und die Vergangenheit sich immer weiter entfernt, entsteht aus den kritiklosen Gesprächen der Menschen wie nebenbei eine Reflexion über die Kraft des Lebens und ihre Machtlosigkeit angesichts des Todes. «Warum ihm entgegengehen?», fragt die Erzählerin sich widersetzend, als beinahe jegliche Orientierung verloren ist. Ihr bleibt eine Verlorenheit, die aus der Einsicht entsteht, dass es für alle nur ein Ziel gibt, oder aber aus dem Wissen, nicht dazuzugehören zu jenen, die den Weg so fragenlos auf sich nehmen.
Eleonore Frey: Waldleute. Basel: Engeler, 2018.