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Everybody’s Karling?

Der Säntis ist einfach zu viel des Guten. Schon um die Jahrhundertwende bemängelte ein Touristenführer sein Gipfelpanorama als «überreich», «zu -wenig spezialisiert». Ein Ausblick wie über «das Dachgewimmel von Paris». Zeitgenössische Nörgler sehen die urbanen Schrecken eher andersherum.Ihr Dauerbrenner: der Säntis sei ein weit sichtbarer Schandfleck, weil man ihm eine Kleinstadt auf den Kopf gesetzt […]

Der Säntis ist einfach zu viel des Guten. Schon um die Jahrhundertwende bemängelte ein Touristenführer sein Gipfelpanorama als «überreich», «zu -wenig spezialisiert». Ein Ausblick wie über «das Dachgewimmel von Paris». Zeitgenössische Nörgler sehen die urbanen Schrecken eher andersherum.Ihr Dauerbrenner: der Säntis sei ein weit sichtbarer Schandfleck, weil man ihm eine Kleinstadt auf den Kopf gesetzt habe. Ohne Zweifel ist sein Gipfel eine High-Heel-Zone. Aber schon einmal hat ein -Naturforscher den Säntis als «Damenberg» abgetan, -worauf er sogleich in böse Bergnot geriet und den Säntis zur Strafe – oder nachträglicher Würdigung – einen «schlecht gelaunten Himalaja-Riesen» nannte. Auch jenen Sünneli-Anbetern, die meinen, im Guten das Schlechte erkennen zu müssen, im Netten das Böse und im Gemässigten das Verächtliche, müsste der Säntis geradezu Feindbild sein. Dieser Gipfel der Gefälligkeit. Einer, der’s mit allen gut meint. Ohne sich deswegen gleich zur Rigi zu machen. Aber auch ohne zu provozieren wie ein Eiger.

Der Säntis vereint Bergfreunde aus allen Lagern. Er ist ein Zugänglicher, aber mit schroffen Ecken und Kanten. Die haben ihm die Würde bewahrt, trotz Schwebebahn und einem Gefühl von Autobahnraststätte auf den letzten Gipfelmetern. So wird er von Bergtüchtigen genauso bestürmt wie von Käffeli-Grüppchen. Wer den Säntis mit Skiern befahren hat, der liebt ihn dafür, dass er sich dem Skizirkus entzieht. Der Säntis ist populär, aber eben kein «Schätzeli». Ein Berg, der vielen Heimat bedeutet. Aber nicht wie eine Francine Jordi, sondern vielleicht wie ein Adolf Ogi?

Jüngst hat der Säntis, der eben kein markiger, alleinstehender Karling ist, sondern gmögiger Höhepunkt des Alpsteins, dieser weder kleine noch grosse, ganz sicher nicht unberührte, aber auch nicht verschandelte, dieser ein bisschen hervorragende, aber mittelständische Berg, eine Monographie erhalten, die alles richtig macht. Was heisst, dass sie eben mehr macht als alles nur richtig. In einer Literaturgattung, die kaum zu Spektakulärem, aber oft zu Lehrer-haftem neigt, sticht sie hervor mit Stil und Schönheit. Keine schon beim Erscheinen verstaubte -Aufmachung, sondern wunderbare Typographie, -geschmackvoll editiertes Bildmaterial, griffig grobes Papier im Wechsel mit Hochglanz, ein modernes, kein modernistisches Buch, das sich gestalterisch weder auf Rückbesinnung ausruht (ein Problem -vieler Bergbücher) oder in Originalität verliert (ein Problem vieler Bergbücher), sondern prächtig zu -liegen kommt zwischen den noblen Coffee-Table-Beautys der Welt. Eine solche Berg-Monographie -ermöglicht den Zustieg einem weiteren Publikum als den Clubhaus-Freunden. Und das haben die -Texte von Adi Kälin mehr als verdient: Klar und dicht erzählt er von Höhlenbewohnern, Künstlern, Lastenträgern, Bergsteigern, Murmeli-Ansiedlern, -Swisscom-Technikern und der Wirte-Dynastie der Dörigs. Von Richard Wagners Mühen und Marc Girardellis Privatskilift. Von Albert Heims lebens-langer Liebe und selbstverständlich vom Doppelmord am Wetterwart und seiner Gattin in der -Abgeschiedenheit des Winters anno 1922 durch den unseligen Gregor Kreuzpointner, bekannter Bergsteiger, Nebenbuhler und Haderlump. Ja, der Säntis verfügt neben der obligaten Sage auch über einen handfesten Thriller mit Pistole. Adi Kälins Buch ist eine kenntnis- und anekdotenreiche Tour von allen Seiten, es führt durch düstere Felshöhlen und freundliche Gasträume, über sonnige Matten und blutigen Schnee, es erhellt historisches Terrain, das Abenteuer einer Weltraumstation und lässt uns stets die Schönheit dieses Alpstein-Gipfels im Auge behalten. Wäre ich ein Berg, ich würde meine Monographie im Hier-und-Jetzt-Verlag haben wollen.


Adi Kälin
Säntis – Berg mit bewegter Geschichte. Baden: Hier und Jetzt, 2015.

 

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