Fôret de Fontainebleau
Diese Stimmung, dieses Licht, diese Cafés und diese Gärten… es ist schwierig, Paris nicht zu mögen. Das habe ich vor ein paar Wochen noch geglaubt. Und dabei gar die Müllabfuhr gelobt, die jeden Morgen um halb sieben mit rasselndem Motor unter meinem Fenster anhält, ächzend zwei Altglascontainer hebt und deren Inhalt so in den offenen […]
Diese Stimmung, dieses Licht, diese Cafés und diese Gärten… es ist schwierig, Paris nicht zu mögen. Das habe ich vor ein paar Wochen noch geglaubt. Und dabei gar die Müllabfuhr gelobt, die jeden Morgen um halb sieben mit rasselndem Motor unter meinem Fenster anhält, ächzend zwei Altglascontainer hebt und deren Inhalt so in den offenen Bauch des Wagens kippt, dass nicht nur das Glas, sondern auch meine Träume zersplittern. Als ich aber neulich im Jardin de Luxembourg stand, fiel mir auf, dass ein Baum hier offenbar nur dann als schön gilt, wenn seine Krone kubisch ist. Wenig später, auf einem Gehsteig, der seinen Bäumen gerade so viel Grün zugesteht, dass es für zwei Hundehaufen reicht, noch später, als ich all die Menschen sah, die musizierend und trinkend am Ufer der Seine sassen, an diesem von Mauern eng umfassten Fluss, der zu den schmutzigsten Europas zählt und sich kotbraun durch das asphaltversiegelte Paris quält – beklomm mich die Einsicht: Der Mensch ist ein Tier, das in Rechtecken denkt. Mir wird klar: ich muss raus.
Tags darauf stehe ich, Schlaf- und Biwaksack auf dem Rücken, in der Gare de Lyon. Tief im Keller dieses Prunkbaus bilden nach Stahl und Urin stinkende Gleise einen Regionalzugbahnhof, dessen Elend seiner überirdischen Hälfte erst zu voller Fürstlichkeit verhilft. Holpernd prescht der Zug dann durch die Südquartiere, lässt Gleisfelder und Industriegebiete hinter sich, erreicht Melun. Im Bahnhofsbuffet lasse ich mir von einem Kellner, der es nicht gewohnt ist, in ein fremdes Gesicht zu blicken, ein Butterbrot streichen. Die Männer, die im Lokal stehend das Formel-1-Rennen anschauen, bemerken mich nicht.
Zehn Minuten später verschwinde ich im Fôret de Fontainebleau. Hier dürfen Bäume noch wachsen, wie ihnen beliebt. Von den Nachteilen dieses Umstandes spricht ein Schild: Es weist Wanderer darauf hin, dass sich ein Ast lösen könnte. Jetzt, da ich dies notiere, fühle ich noch einmal die Lust, dieses Schild zu vernichten.
In einem anderen Teil des Waldes stemmen sich unvermittelt anmutig geschliffene Felsrücken aus dem Boden, bestanden von schiefen Kiefern. Wohnwagengrosse Felsquader zieren kupiertes Gelände, überzogen von leuchtenden Flechten. Der Pfad, der sich durch diese Wildnis schlängelt, mutet skandinavisch an. Bald erreiche ich einen Parkplatz, die Felswürfel daneben sind behangen mit kletternden Menschen. Einige haben Bürsten dabei, um die Griffe zu reinigen, die der Stein bietet. Weiter und weiter marschiere ich, in die Arme der Dämmerung. Ohne Uhr, ohne warme Kleidung. Bald liege ich unter einer Kiefer, neben mir die Walfischrücken der Felsen. Stille füllt mir die Ohren.
Mitten in der Nacht trommelt Regen auf den Biwaksack. Zu müde, um nach einem Felsvorsprung zu suchen, wende ich den Sack zur Seite und halte den Unterarm so, dass genügend Luft zirkulieren kann. Gemächlich rinnen kalte Tropfen von den Fingern zum Handrücken.
Es poltert, ich schrecke hoch: weisses Geschmier auf meinem Biwaksack. Direkt über mir die Umrisse eines imposanten Vogels. Immerhin, es regnet nicht mehr. Ich versuche zu schlafen.
Als ich zum nächsten Mal wach werde, schickt die Sonne schon ihre Strahlen ins Gezweig. Der Rucksack hat die Temperatur gemessen: glänzende, gefrorene Tropfen übersäen ihn. Zu kalt, um lange zu frühstücken. Ein Schluck Fruchtsaft und ein paar zarte Blätter einer jungen Birke, das reicht schon. Nach einigem Kauen entwickeln sie einen muskat-feinen Geschmack. Nach den ersten Schritten blicke ich zurück: ein langes, trockenes, helles Viereck auf alten Kiefernadeln. Der Mensch ist ein Tier, das gerne in Rechtecken denkt.
Urs Mannhart
ist Schriftsteller und Reportagejournalist. Zuletzt von ihm erschienen: «Bergsteigen im Flachland» (Secession, 2014). In seiner Kolumne «Kraut und rüber» bereist er die Welt und erzählt von Orten, Wegen und wilder Naturkulinarik.