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Glanzmann muss gehen

Eine Kurzgeschichte.

Die drei hat er noch nie gesehen. In der hintersten Reihe sitzen sie, der erste kreuzt die Beine, der zweite gähnt und zupft Fäden aus dem Pullover. Diese Burschen. Wie sie vorgeben, das Leben zu verachten und das Glück und die Welt. Bücher haben sie keine dabei. Der dritte glotzt nach vorne, das Kinn auf die Hände gestützt. Ihn wird er aufrufen, wenn sie die dunklen Passagen besprechen.

Glanzmann sieht aus dem Fenster. Es dämmert und Blätter wirbeln im Kreis. Eine Weile schaut er zu. Als es klingelt, legt er seine
Notizen aufs Pult und setzt sich hin.

Kapitel sechs, Abschnitt C, sagt er. Der seiner selbst gewisse Geist. Wer will sich dazu äussern?

Im Mai kommen die Käfer. Georg holt Tennisschläger aus dem Keller und dann geht es los. Manchmal klingt es, als dresche er Bälle, meistens aber schmatzt es bloss.

Glanzmann kniet am Boden und sieht hoch. Sein Bruder dreht sich und lässt den Schläger kreisen. Er dreht sich im Abendlicht und dreht sich und die Tiere fallen auf die Erde, als würden sie geerntet. Die Eltern haben es erlaubt. Es sind Schädlinge, haben sie gesagt.

Du auch! ruft Georg und zeigt auf den Schläger.

Glanzmann schüttelt den Kopf. Er hält einen Käfer zwischen Daumen und Zeigefinger.

Sein Bruder kniet sich neben ihn. Was machst du? fragt er.

Ich zähle die Schläge.

Welche Schläge?

Die des Käfers, sagt Glanzmann und streckt das Tier in die Höhe. Er hat ihm den Panzer entfernt. Er hat ihm das Herz freigelegt.

Und? fragt Georg.

Glanzmann blickt auf seine Armbanduhr.
Er schnalzt mit der Zunge. Vierundzwanzig, sagt er. Jetzt wissen wir es. Vierundzwanzig mal die Minute.

Das kann man so interpretieren, sagt Glanzmann. Kann man, wenn man unbedingt will, sagt er und hebt den Kopf. Die Studenten
sehen ihn an wie immer. Rehe vor einer
Futterkrippe. Nur die drei in der hintersten Reihe blicken über ihn hinweg. Er dreht sich um und sieht nach oben. Aber da ist nichts,
da hängt bloss eine Uhr an der Wand. Er
beugt sich wieder über den Text.

Weitere Vorschläge? fragt er.

Jemand schnippt mit den Fingern.

Ja?

Der Glotzer legt die Hände auf den Tisch und lehnt sich nach vorne. Er sagt: Du weisst nichts. Nichts hast du verstanden. Er lehnt sich wieder zurück und verschränkt die Arme.

Was fällt Ihnen ein? will Glanzmann sagen, und: Seit wann duzen wir uns? Seine Stimme zittert. Was …? sagt er. Die Studenten sehen ihn an. Der Glotzer steht auf, zieht die Jacke an, geht auf Glanzmann zu und bleibt vor ihm stehen. Er hält die schlaffe Hand vor Glanzmanns Stirn. Dann lässt er die Finger nach vorne schnellen, als würde er eine

Fliege verscheuchen. Er lächelt. Ich warte im Wagen, ruft er den beiden anderen zu und verlässt den Raum.

Glanzmann schüttelt den Kopf.

Hegel kann einen ganz schön aus der Fassung bringen, sagt er. Niemand lacht.

In der Sakristei ist es düster. Touristen drängen vor den Gräbern, Glanzmann legt die Arme um Zoes Schultern. Ihr Haar riecht nach Orangen.

Diese Skulptur steht für den Tag, flüstert er
in ihr Ohr. Und die hier steht für die Nacht.

Woher weisst du das?

Es gibt Zeichen. Die Eule neben ihrem Fuss.

Und weshalb die Maske? Sie zeigt auf ein
Gesicht im Stein.

Moment. Glanzmann löst sich von ihr und blättert im Führer.

Ist doch egal, sagt sie. Sie streichelt seinen Arm. Es ist egal, sagt sie. Sie sind schön,
die Figuren.

Du verstehst das nicht, sagt er und sucht
weiter. Er blickt nicht auf, bis er es gefunden hat. Träume, sagt er. Die Maske steht für
die Träume.

Das gefällt mir, sagt Zoe. Träume für den,
der im Sakrophag liegt.

Sarkophag, sagt Glanzmann.

Der Stuhl, auf dem Glanzmann sitzt, ist
gepolstert. Es riecht nach Rauch und die
Bücher in den Regalen sind gelb. Auf dem Schreibtisch steht ein Foto. Honegger mit Mann und Kindern.

Also, sagt sie. Herr Glanzmann.

Ja?

Wie letztes Semester. Wie vorletztes Semester, Herr Glanzmann. Moment. Sie hebt die Unterlagen hoch, damit er nicht sehen kann, was dort steht. Macht sich über Beiträge der Studierenden lustig, liest sie. Herablassend, liest sie und sieht ihn an.

Glanzmann räuspert sich.

Warum ändert sich das nicht? fragt Honegger.

Wer genau beschwert sich denn?

Das werde ich Ihnen nicht sagen.

Die kapieren überhaupt nichts, sagt Glanzmann. Nicht die einfachsten Texte.

Honegger legt die Unterlagen zur Seite. Sie schaden dem Institut, sagt sie.

Glanzmann blättert. Er hat den Faden verloren.

Seite vierhundertdreiundfünfzig, sagt eine Studentin, die ganz vorne sitzt.

Danke! Die Verstellung. Genau. Wer hat
etwas verstanden?

Die Studenten beugen sich über den Text.

Irgendetwas? fragt er und rückt näher ans Pult. Lassen Sie uns den dritten Satz genauer unter die Lupe nehmen, sagt er und während er spricht, bewegt sich etwas hinter seinem Rücken. Er dreht sich um. Da sind schwarze Buchstaben an der Wand, gleich unter der Uhr. Glanzmann setzt die Brille auf und liest.

Dort steht: Glanzmann dreht sich um.

Er liest weiter.

Dort steht: Glanzmann liest.

Er liest weiter.

Dort steht: Glanzmann muss gehen.

Wer war das? fragt er, steht auf, öffnet die
Tasche, holt sein Smartphone hervor und
fotografiert die Wand.

Wer war was? fragt die Studentin, die ganz vorne sitzt.

Glanzmann öffnet den Brief. Zoe hat ihn auf die Kommode gelegt.

Es klappt nicht mit uns, schreibt sie. Du weisst es selbst.

Das Fenster steht offen, Hitze dringt ins Haus. Glanzmann schwitzt und seine Kehle ist trocken. Er faltet den Brief und geht ins Arbeitszimmer. Privates, steht auf dem schwarzen Ordner. Er schlägt ihn auf und schiebt den Brief in eine Sichthülle. Er schenkt sich einen Grappa ein und trinkt. Er trinkt, bis nichts mehr da ist. Er taumelt in die Küche und vergisst, was er dort will. Es klappt nicht mit ihm, er weiss es selbst. Er denkt und denkt und sein Leib ist trocken.

Bist du überhaupt ein Lebewesen? hat Zoe
gefragt und den Finger in seine Seite gestos­sen. Sie hat den Kopf zurückgeworfen. Ist
das Fleisch? hat sie gefragt und ihn am
Oberschenkel gezwickt und gelacht hat sie, damals.

Was ich diesen Sommer erlebt habe, schreibt Glanzmann und unterstreicht den Titel. Georg kommt ins Zimmer und schaut ihm über die Schulter.

Was schreibst du? fragt er.

Hau ab! sagt Glanzmann. Lass mich in Ruhe!

Am nächsten Tag gibt er seinen Aufsatz ab. Die Lehrerin lächelt, als er ihr die Mappe in die Hand drückt. Fünf Seiten lang ist der Text. Die Lehrerin zieht die Blätter heraus, sieht sie sich an, dreht sie um und sagt: Aber da steht ja gar nichts drauf.

Er sucht in seiner Tasche, breitet alles aus, was sich darin befindet. Georg hat den
Aufsatz gestohlen. Er hat die Blätter ausgetauscht. Der Text ist weg und der Sommer auch. Glanzmann setzt sich auf den Boden, mitten im Schulzimmer.

Der Wagen steht in der Tiefgarage. Glanzmann presst die Stirn gegen das Steuerrad.
Er atmet. Er atmet tief. Dann nimmt er das Smartphone aus der Tasche und wählt Zoes Nummer.

Ja?

Hallo.

Du sollst mich nicht anrufen, sagt sie.

Ich weiss.

Also?

Es geht mir nicht gut. Etwas stimmt nicht.
Die Studenten haben…

Dann lass dir helfen, sagt sie und hängt auf. Glanzmann starrt auf das Display. Er öffnet die Galerie. Zweimal hat er die Wand fotografiert. An der Wand hängt eine Uhr. Keine Schrift, nichts. Glanzmann startet den Wagen.

Sie erheben sich gleichzeitig, alle drei. Auf der Hinterbank haben sie sich versteckt. Wie
hager sie sind. Es fällt ihm erst jetzt auf.

So, Herr Glanzmann, sagt der Glotzer und
hält ihm den Zeigefinger an die Schläfe.
Wir übernehmen.

Glanzmann tritt auf die Bremse. Raus hier! schreit er.

Da hält ihn der eine fest, schlingt ihm den Arm um den Hals, drückt gegen seinen Kehlkopf. Der Glotzer steigt aus, öffnet die Tür
und drängt Glanzmann auf den Beifahrersitz.

Ich fahre, sagt er und gibt Gas. Der andere drückt noch fester zu und Glanzmann
bekommt keine Luft.

Die Sonne glüht. Wasser umspielt seine
Füsse. Glanzmann sitzt am See und liest.
Zoe öffnet den Picknickkorb.

Lass uns essen, sagt sie.

Moment.

Was?

Noch dieses Kapitel, sagt er. Noch zwei Seiten.

Kann das nicht warten?

Nein.

Zoe umarmt ihn von hinten und liest mit.

Ich verstehe kein Wort, sagt sie.

Man muss es mehrmals lesen. Man muss
alles lesen. Man muss sich Mühe geben.

Ist das Fleisch? fragt der Glotzer und zwickt ihn am Oberschenkel.

Glanzmann schwitzt. Er hat sich in die Hose gemacht. Er fragt: Was wollt ihr von mir?

Lass uns Bilanz ziehen, sagt der dritte. Er legt die Hand auf Glanzmanns Schulter.

Bilanz?

Ja. Was fällt dir ein?

Was soll das? Seid ihr verrückt?

Jetzt lachen sie, alle drei. Der Glotzer tritt
aufs Gas, die Tachonadel steigt. Dann zieht
er die Handbremse.

Kreisel, Kreisel, tanz geschwind, sagt der mit der Hand auf Glanzmanns Schulter, und der Wagen dreht sich. Er dreht sich und dreht
sich und prallt gegen einen Pfeiler aus Beton. Glanzmanns Herz wird freigelegt.

Splitter, Splitter, dring ins Auge, sagt der Glotzer. Er sieht hin wie jemand, der es wissen will.

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