Hansjörg Schertenleib:
«Lichtung, Strand. Gedichte aus 35 Jahren»
Hansjörg Schertenleib ist vor allem als Romanautor bekannt (s. Seite 39), aber auch seine Gedichte wollen hinaus ans Licht, schliesslich hat er seine literarische Karriere als Lyriker begonnen. Doch der Verlag, der 1989 «Der Stumme Gast» und 1997 «November. Rost» publizierte, legte sie nicht mehr neu auf. Eine Auswahl aus den beiden Bänden mit ein paar zusätzlichen Gedichten hätte erst beim Verlag Martin Wallimann erscheinen sollen, der jedoch den Betrieb einstellte. Mit Verspätung ist der Band nun bei der edition bücherlese erhältlich, und erst noch in schöner Leinenausführung.
Bei der Neulektüre dieser Gedichte aus 35 Jahren macht es staunen, wie wenig die Texte auf Verständlichkeit bedacht scheinen. Vor allem die aus «November. Rost» gewählten Gedichte, denen hier freilich der Zusammenhang der Originalpublikation fehlt, muten zunächst wie demonstrativ verrätselte Schnipsel von disparaten Beobachtungen und Überlegungen an. Maximal verdichtet skizziert Schertenleib Momente der Reflexion und der scharfsinnigen kleinen Beobachtung. Die kurzen Gedichte sind wortkarg, ihre Elemente roh und anscheinend unverbunden: «Du wusstest einen neuen Weg, ich / drehte uns durch alle Sender, / am Stadtrand lag ein toter Hund.» …und in China fällt ein Sack Reis um, möchte man im Ringen um sinnhafte Zusammenhänge anfügen.
Rondohaft kehrt eine beschränkte Anzahl oft melancholischer Topoi wieder: das Ineinanderfliessen von Tag und Nacht, Herbst und Winter, schlechtes Wetter, durchnässte Figuren, brennende Häuser und Sachen, Hirn und Blut, Küsse und Sex im Freien, Biertrinken in der Kneipe. Alles schöne und gute Sachen, aber wie sich das alles anfühlt und zueinander verhält: das bleibt der hermeneutischen Kunst des Lesers überlassen. Versüsst wird einem das Verweilen beim Text indessen durch einen angenehmen Gesprächston, der mal in lockere jambische Dimeter und Trimeter gegossen ist, mal gänzlich frei fliesst, und durch Schertenleibs formales Raffinement: die Gedichte sind oft zyklisch aufgebaut und enden mit den Worten des Anfangs. Dadurch kehrt eine Reflexion ins selbe Bild zurück, von dem sie ihren Ausgang nimmt, und leuchtet es neu aus. So sehen wir zunächst «Fliegendreck, die Schliere / auf dem Spiegel». Die verschmierte Scheibe im Zoo wird zum Spiegel, denn der dahinter steht, «das bist du». Angelegt im anderen – vielleicht dem Gorilla? – ist «das Repertoire an Gesten, / Worten, Taten, Lügen». Doch jener Untugenden gewahr wird der Betrachter durch den erneuten Fokus auf die verdreckte Scheibe, die ihn selbst spiegelt.
Die Auswahl der früheren Gedichte aus «Der stumme Gast» enthält aber auch weniger grüblerische Kost. Im kleinen Gesang an die Marie etwa will der Sprecher einfach nur «untergehen», «Hinterm Strauch / in dir, Marie, in dir». Die erstmals veröffentlichten Verse unter der Rubrik «Verstreutes 1977–2012» beschränken sich auf eine Handvoll Paralipomena. Aufhorchen lässt hier eine Passage, die sich vielleicht als poetologische Auskunft zu Schertenleibs opaker, aber gleichwohl reizvoller Lyrik lesen lässt: «Ich kann mich nicht hören und / ich will mich nicht verstehen. / Mit Wucht springen helle Bilder / mir ins Hirn und werden schwarz.»
Hansjörg Schertenleib: Lichtung, Strand. Gedichte aus 35 Jahren. Hitzkirch: edition bücherlese, 2015.