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«Trudi Gerster ist  der Höhepunkt  der Schweizer Erzählkunst»
Michael Fehr, fotografiert von Franco Tettamanti.

«Trudi Gerster ist
der Höhepunkt
der Schweizer Erzählkunst»

Ein Gespräch über fundamentale Werte.

 

Michael, als wir uns das allererste Mal getroffen haben, sagtest du einen Satz, der mir in Erinnerung geblieben ist: «Weisch, Literatur, das interessiert mich gar nicht.» Was hast du ­eigentlich damit gemeint – und ist es immer noch so?

Es ist sogar je länger, desto mehr so. Geschichten, Erzählung, der Bericht über Aktivität interessieren mich schon. Aber das Ausbreiten von Befindlichkeiten interessiert mich überhaupt nicht, und da das sehr kontemporär ist in der Literatur, interessiert mich Literatur nicht. So einfach ist das eigentlich.

Die berühmte «Innerlichkeit»?

Ja. In der «Odyssee» hat es für mich genug Psychologie, ich brauche keine WG, wo der eine in die andere verliebt ist, aber die andere leider in den Dritten, und jetzt ist der eine traurig. Dieses ganze «Ich fühle mich im Verhältnis zu dir soundso» finde ich uninteressant. Ich weiss ja selbst, wie es ist, allein in einem Zimmer zu sitzen, und in einem anderen Zimmer sitzt eine, mit der mal was war, aber dann doch nicht, und jetzt ist alles megakompliziert. Aber einem Zyklopen bin ich vor Odysseus nie begegnet.

Was macht dann gutes Erzählen aus?

Die Literatur sollte sich darauf beschränken, Handlungen zu beschreiben, statt Zuständen. Ja, man kann nur Handlungen beschreiben, denn das Leben läuft offensichtlich in Zeit ab, und die Konsequenz von Zeit ist Veränderung. Alles, was wir wahrnehmen, ist Veränderung, Zustände dagegen sind tot und uns Menschen unzugänglich, und deshalb sollten wir auch nicht so viel darüber reden. Wenn das Verhältnis meiner Eltern gestört ist oder ihr Verhältnis zu mir, mag das für meine Biografie eine Rolle spielen, aber es vermittelt nichts. Historisch gesehen bestehen die grossen Werke doch fast nur aus Handlungen. Wenn Ovid in den «Metamorphosen» Veränderungen beschreibt, heisst das ja nicht, dass er nicht trotzdem die Gefühle meint.

«Befindlichkeitsliteratur» ist in deinem Sinn gar kein Erzählen.

Ohne Handlung keine Geschichte. Mich interessieren Geschichten – und ihre «Delivery»: Wie wird etwas erzählt? Dieses Gefühl, wenn du vor einer Bühne stehst oder als Zehnjähriger mit einer grossen Tüte Paprika-Chips in der Badewanne sitzt und jemand flüstert dir etwas ins Ohr: grossartig. In dieser Hinsicht ist Trudi Gerster übrigens der Höhepunkt der Schweizer Erzählkunst. Ich würde noch heute hundertmal lieber eine Sammlung von Trudi Gerster in die Ferien mitnehmen als, sagen wir, eine Auswahl «Schweizer Literatur 2019». Nun kann man natürlich sagen, so ein Märchen sei von der Komplexität eines Romans Lichtjahre entfernt, aber gerade im Einfachen kannst du eben nicht mit handwerklichen Fertigkeiten auftrumpfen und ablenken, du musst einfach liefern. Und das hat Trudi Gerster brillant gemacht.

Zurück zu den Urformen des Erzählens als mündliche ­Überlieferung?

In der Schriftkultur haben wir völlig vergessen, dass der eigentliche Inhalt von Erzählung der Atem ist. Hör mal Sufis zu, die rezitieren, das ist wunderschön, und die Atemtechnik, wie sie Luft holen, wie viel Luft sie ausstossen, ist fast präsenter als die eigentliche Artikulation.

Aber was sagt uns das? Vielleicht bin ich ja durch zeit­genössische Literatur amputiert, aber «Geschichten» und «Veränderung» erfasse ich doch über Sprache und Begriffe. Was erzählt mir der Atem?

Alles! Er berichtet von der Existenz, über dein fundamentales Wesen. In dem Moment, in dem du zu atmen aufhörst, gibt es dich nicht mehr. Nun kannst du entgegenhalten, dich interessiere Fundamentales nicht, sondern, sagen wir, Politik und Wirtschaft. Solche Menschen gibt es natürlich tonnenweise, das ist mir schon klar. Aber mich interessiert Fundamentales und was uns fundamental ausmacht, ist Atem – und Tätigkeit. Wir sollten beginnen, wieder tätig zu werden.

Was meinst du genau?

Eben nicht konservativ alles verzuständlichen wollen, sondern offen in die Zukunft blicken und handeln. Wieder avantgardistisch sein, wieder Dinge erfinden – über die Geste der Hilfe. Wenn man sich gegenseitig hilft, wenn ich dir mein Talent zur Verfügung stelle und du mir deins, kommen wir gemeinsam weiter als allein. Bei Corona war doch entscheidend, wie sich Wissenschafter verbunden haben über das ganze Konkurrenzdenken hinweg. Wir haben gelernt, Konkurrenz belebe. Ja, mag sein: für die Hälfte der Menschheit, die den Arsch nicht hebt, wenn man ihnen nicht hineintritt. Für die belebt Konkurrenz, immer schön Druck machen, immer schön mit der Peitsche knallen. Aber die andere Hälfte der Menschheit, die ich kenne, funktioniert gegenteilig: Wenn ich mich wohl fühle, dann bin ich auch gern tätig. Und dieses Wohlbefinden kommt aus dem Atem.

Du gräbst tief im Spirituellen.

Sicher, das ist total spirituell. Wenn du mehr auf deinen Atem achten würdest, würdest du zum Beispiel merken, dass du nur in gewissen Geschwindigkeiten arbeiten kannst. Es gibt Leute, die sehr schnell reden. Die brauchen aber auch sehr schnell neue Luft. Ihr ganzer Apparat ist auf Schnelligkeit ausgerichtet. Mein Apparat ist langsam. Jede Person hat ihre Geschwindigkeit und wird Tätigkeiten erfolgreich ausführen können, die ihrem Atem entsprechen. Alles andere wird sie knechten.

Versuchen wir, den Bogen zur Literatur wieder zu finden. Wie kann sie zu einer offeneren, tätigeren Gesellschaft beitragen? Hat die Schweiz «spirituelle» Autoren?

(grinsend) Na ja – mich!

Und woran arbeitet der spirituelle Autor Michael Fehr gerade?

Im Herbst werde ich zusammen mit dem Schlagzeuger Rico Baumann auf die Bühne kommen, gerade gestern waren wir bis tief in die Nacht am Proben. Es wird sehr perkussiv, sehr repetitiv, sehr spirituell von mir aus. Die Premiere wird im Oktober beim Woerdz-Festival in Luzern sein. Ich freue mich extrem ­darauf.

Ist dieses Repetitive nicht ein Gegensatz zum Erzählen von Handlungen, von Veränderung, wie du es am Anfang gefordert hast?

Doch. Aber ich mache es natürlich mit einem mantrischen Anspruch. Die Wiederholung muss dazu führen, dass du plötzlich nicht mehr nur eine Narration vor dir hast, sondern ein räumliches Phänomen. Ein sprachliches System, nicht mehr einen sprachlichen Verlauf. Das wäre meine Rechtfertigung.

Müsste Literatur mehr live stattfinden, dann wäre sie ­menschlicher, fundamentaler und würde mehr interessieren?

Nicht unbedingt. Du könntest auch etwas zu Papier bringen, was avantgardistischer ist. Mein Einblick in die zeitgenössische Literatur ist beschränkt, aber das, was ich zufällig mitbekomme, ist mir schon mehr als langweilig genug. Jemand hat es mal so beschrieben: Wenn man politisch schreibt, hat man im Moment des Schreibens das Gefühl, man sei so nahe an dem, was man eigentlich meint, wie noch nie. Man liest sozusagen das Feuer seines aktuellen Mitteilungsbedürfnisses mit in seinen eigenen Erguss hinein. Nach drei, vier Tagen liest man es wieder und denkt: Da steht eigentlich gar nichts. Das finde ich ganz treffend.

Ich bin gespannt, was uns im Herbst erwartet.

Ich weiss, auf dem Zug, mit dem ich gerade fahre, sind noch nicht viele unterwegs. Aber ich bin mir sicher, dass es der richtige Zug ist. Ob er auch am richtigen Ort ankommt – keine Ahnung, das würde ich nie für mich in Anspruch nehmen. Aber meine Untersuchung ist gut, und ich plädiere dafür, dass mehr Leute in Züge steigen, von denen sie nicht wissen, wo sie ankommen.

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