Rob van Essen: «Der gute Sohn»
Holland in Not.
«Was macht ihr am Wochenende?» – «Holland.» Mit diesem Dialog sind Generationen in meiner westdeutschen Heimatregion aufgewachsen. Holland war nebenan. Holland lag am Meer, es war klein, schnell erreicht und schnell durchquert. In Holland durfte man sogar ki…, also Kaffee trinken. Auf nach Maastricht. Oder Middelburg, zum Grillen am Nordseestrand mit Übernachtung. Was grillt ihr? Heineken. Wo pennt ihr? Auto.
Natürlich gab es immer den einsamen Besserwisser, der nörgelte: Das ist gar nicht Holland. Den haben wir nie mitgenommen, der lebt heute allein in einer dunkeltapezierten Einzimmerwohnung am Stadtrand und will noch immer erklären, dass Maastricht in der Provinz Limburg liege, Middelburg in der Provinz Zeeland. Die Provinz Holland sei die Gegend… – aber keiner hört dem Klugscheisser zu.
Nun aber das: Der niederländische Staat hat beschlossen, Holland abzuschaffen. Es ist vorbei mit unserem kleinen Land für die kurzen Fluchten. Die Niederlande sind jetzt viel grösser. Wie das künftig aussehen wird, lesen wir beispielsweise in dem Roman «Der gute Sohn» von Rob van Essen. Stundenlang brauchen Autos, um eine Stadt zu verlassen, tagelang dauert die Fahrt von Amsterdam in den Süden, es gibt Steppen und hohe Berge. Das ist so neuniederländisch und gross, dass dieser Roman im Jahr 2019 den bedeutenden Libris Literatuur Prijs bekam.
Wir begleiten den namenlosen Ich-Erzähler weitgehend chronologisch durch vierzig Jahre seines Lebens, vom holländischen Amsterdam seiner orientierungslosen Jugend bis zu einer Pilgerstätte in den Südstaaten des zukünftigen niederländischen Riesenreiches. Als nun Sechzigjähriger hat «der gute Sohn» vor kurzem seine demente Mutter beerdigt, die er jahrzehntelang treu und regelmässig im Pflegeheim besuchte. Jetzt fühlt er sich selber alt in diesen Zeiten des bedingungslosen Grundeinkommens, der selbstfahrenden Autos und der Serviceroboter. Und dann ist da noch ein obskurer Geheimdienst auf der Jagd nach einem alten Bekannten, der das Gedächtnis verloren und womöglich Diamanten versteckt hat.
In der Urteilsbegründung der Libris-Jury heisst es, der Roman zeige faszinierende und bizarre Welten, Sinnsuche und Sinnlosigkeit. Hier angekommen ist er als ein betuliches Road Movie, ein blutleerer Geheimdienst-Thriller, ein schleppendes Selbstfindungsdrama mit späterer völliger Selbstaufgabe, eine Science-Fiction-Klamotte und eine halbherzige Traumatherapie. Ausserdem bietet Rob van Essen gelegentlich ungelenke Metafiktion über das Schreiben, denn der Ich-Erzähler ist nicht nur der Erfinder «plotloser Thriller», einer zukünftig boomenden Literaturgattung, sondern er sieht sich auch just in einem solchen plotlosen Thriller verwickelt, wenn er tagelang durch die riesigen Niederlande kutschiert wird, ohne Ziel und Zweck der Reise zu kennen.
Die Jury des Libris-Preises sieht eine zunehmend drängendere Suche des Ich-Erzählers nach Antworten. Hier angekommen weiten sich lapidare Episoden seitenlang zu ergebnislosen Gedankenflüssen, kernige Ereignisse ziehen in Trippelschritten vorbei, selbst beim unbändigen Sex heben die Wörter ihre Füsse kaum. Dabei hat der Autor – aus der Stadt Amstelveen stammend, Provinz Nordholland – durchaus humorige Einfälle. Die Roboter und Computer beispielsweise haben dieselben Fehler und miesen Launen wie vormals in denselben Funktionen tätige Menschen. Das schreit nach einigen spritzigen Anekdoten, doch der Spass wird erst gewissenhaft ausgewalzt und später unverändert wiederholt. So ist und bleibt die Sprache zu artig, die Handlung zu dünn, die Strecke zu weit, der Raum zu riesig. Im kleinen Holland hätte der erste Teil in Amsterdam eine nette Novelle ergeben. Aber das kleine Holland gibt es nicht mehr.
Gewiss, Sie könnten jetzt fragen: Holland oder Niederlande, klein oder gross – gibt es keine anderen Routen? – Es gibt sie. Wie wäre es, ausgehend von Hollywood, mit einem wilden Road Movie kreuz und quer durch Los Angeles? Begleiten Sie eine Rotte alter Gauner und verwirrter Möchtegernfilmstars, die sich von der Ziellosigkeit ihrer Manöver nicht irritieren lassen. «The Lammisters», der siebte Roman des Iren Declan Burke, ist manchmal ein Thriller, nie Science-Fiction und sicherlich keine Therapie, dafür aber neben der Vagabundenstory auch Metafiktion der Extraklasse. Letztere führt aus Los Angeles in die jahrtausendealte europäische Schreibtradition auf der Suche nach daraus entwickelten Leseerwartungen. Unterwegs tritt Burke viele Türen ein, bei Dickens und Cervantes, bei Aristoteles und Plutarch, bei Dryden und Fielding rülpst er laut in den Flur, bei John Bunyan («The Pilgrim’s Progress») und Lawrence Sterne fragt er, ob er zum Essen bleiben dürfe. Das schweift ab ins «Plotlose», aber da Burke einen spritzigen Humor hat und bissige Dialoge beherrscht, bleiben die Abschweifungen bis zum Ende ein grosser Spass, die Fahrt ist so rasant, dass es zischt. Fast wie früher, in Middelburg, beim Heineken am Strand.
Rob van Essen: Der gute Sohn. Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure. Erlangen: Homunculus-Verlag, 2020.