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Kaukasischer Kakao

Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka). Frankfurt: FVA, 2014.

Das Ende ist ein unbeschriebenes Blatt. Auf Seite 1275 kündigt die Überschrift Kapitel 8 an – das kein einziges Wort enthält. Unvermittelt öffnet sich hier eine Leerstelle in einem opulenten Roman, der Myriaden von Menschen und Strängen zu einem gewaltigen Tableau eines wohlbekannten Jahrhunderts in einem kaum bekannten Land fügt: Fünf Generationen führt Nino Haratischwili in ihrem Buch «Das achte Leben (Für Brilka)» durch das Georgien der Zaren- und Republikzeit in das Chaos von Bolschewismus und Terror hinein und über die Sowjetjahre hinaus bis in die Krisen der 1990er Jahre und die Enttäuschungen der postrevolutionären Ära.

Zieht man eine Bilanz aus diesem Epos, so fällt die durchaus grauenvoll aus. Sechs von Krieg oder System Vernichtete, drei Selbstmorde und ebenso viele Vergewaltigungen, Abtreibungen, Alkohol- und Drogentote sowie je ein Verätzungs- und Verstrahlungsopfer hatten die portraitierte Familie Jaschi und ihre Nächsten zu beklagen. Ihre Geschichte spielt im Zeitalter der Extreme, und Haratischwili, auch Theaterautorin und -regisseurin, kennt keine Scheu vor dem Drama, das sie mit viel Pathos mitreissend zu inszenieren weiss.

Eine Geschichte sei wie ein Teppich, befand Stasia, die «Stammmutter», die ein inniges Verhältnis zu ihrer Urenkelin und damit zur Erzählerin der Familiensaga unterhielt: Die in den 1990er Jahren nach Deutschland emigrierte Niza ist es, die Leben, Lieben und Leiden der Jaschis erforscht, auch mal erfindet und, zum Buch gebündelt, der titelgebenden Brilka zueignet. Diese Nichte ist der vorerst letzte Faden des Gewebes, zu dem sich die äusserst unterschiedlich gefärbten Lebenslinien – neben systemtreuen Militärs kannte die Sippe auch emigrierte Rockstars oder dichtende Nonkonformisten – im Verlaufe der Zeit verbanden. Zwar wird die Gefahr, sich in dem Geflecht zu verwickeln, von der zupackenden Sprache und der linearen Erzählform gebannt, doch empfiehlt es sich trotzdem, ein Hilfsmittel beizuziehen: Skizziert man einen Stammbaum der zentralen Figuren und betrachtet man die Verbindungen zwischen ihnen, zeigt sich, dass der Jaschische Teppich Muster aufweist, die sich von Generation zu Generation perpetuieren und scheinbar unauflöslich sind.

Symbolisch erscheint das Schicksal als Schokotrank. Nach Geheimrezeptur gekocht, verfügte die heisse Schokolade à la Jaschi über eine magische Anziehungskraft – und ebensolche Auswirkungen: Wer der Lust nachgab und von ihr kostete, so die Familienlegende, musste den Genuss mittelfristig mit Unglück oder Tod bezahlen. Mystische Gemüter mögen sich die fatalen Entwicklungen der Familie also durch deren Schwäche fürs Süsse erklären, allen anderen wird es näher liegen, als prägenden Faktor «die Geschichte» zu sehen. Die nämlich bildet nicht nur den Hintergrund des Romans, sondern sie drängt sich mit einzelnen Exponenten ganz ausdrücklich auf die Bühne des Geschehens. Namentlich ist es der georgischstämmige Geheimdienstchef Lavrenti Beria – in Nizas Diktion der «Kleine Grosse Mann» –, der auf die Familiengeschicke einwirkt: als Despot, der Stasias schöne Schwester zu Liebesdiensten zwingt und dadurch Elend über viele bringt, aber auch als einflussreicher Mittelsmann, der Entlassungen aus dem Gulag erwirkt und, nunmehr in Gestalt seines Sohnes, zweier Jaschi-Kinder Karrieren protegiert.

Das geht an die Grenze dessen, was im Rahmen von Personenkonstellationen an vielsagender Zufälligkeit erträglich ist. Doch kommt diesem personifizierten Auftritt der Geschichte das Verdienst zu, Verflechtungen mit dem Sowjetregime auf vielschichtige Weise zu thematisieren und damit etwas zu unternehmen, was die Georgier bis dato genauso wenig getan haben wie die Jaschis bis Niza. Als erste machte sich die Emigrantin auf, verschwiegene Vergangenheit sprechen zu machen – um so, schreibend Bewusstsein schaffend, sich selbst und ihre Nachfahren von den alten Flüchen zu befreien: Brilka, die achte in der Generationenfolge, soll ein ganz neues Kapitel aufschlagen können. Die begeisterte Leserin freilich wünschte, es stünde darin schon etwas geschrieben.

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