Linus Reichlin:
«Das Leuchten in der Ferne»
Moritz Martens’ Hochzeiten sind definitiv vorbei. Früher war er ein gefragter Kriegsreporter, der für seine Geschichten viel Lob erntete, nun interessiert sich niemand mehr dafür, er ist müde, ausgelaugt. Das Geld fehlt, die Ehe ist längst geschieden, die Affären öden ihn nur noch an. Doch dann trifft der 53jährige auf Miriam, und zwar an einem Tag im Mai im Warteraum des Bürgeramtes. Miriam, Khalili mit Nachnamen, lädt ihn zu Spaghetti ein. Sie erzählt Martens die Geschichte einer jungen Frau, die seit Monaten als Mann, als Kämpfer gekleidet mit den Taliban durch die afghanischen Berge zieht, und stachelt damit Martens’ journalistischen Ehrgeiz an: Die junge Afghanin sei bereit, ein Interview zu geben – für zehntausend Dollar. Dies sei deren Rettung, denn würde ihr wahres Geschlecht erkannt, würde sie umgehend getötet. Martens ist verliebt, und er folgt der schönen Miriam. Auch wenn er rasch Zweifel an ihrer Geschichte hat, ist seine Lust auf Abenteuer viel stärker als die Stimme der Vernunft.
Bald schon verwickelt sich Miriam in Widersprüche, es stellt sich heraus, dass sie noch nie in Afghanistan war, dass sie aber – aus welchen Gründen auch immer – unbedingt dorthin muss. Und Martens wird zu ihrem Begleiter auf einer Reise, die sie zwar sehr wohl zu der erwähnten Frau führt, die Miriam aber ebenso dazu nutzt, den Geheimnissen nachzugehen, die es in ihrer Herkunftsfamilie gibt. Die Wochen in Afghanistan sind keine Ferien, täglich, manchmal stündlich stehen Martens und Miriam – in gegenseitiger Abhängigkeit – vor neuen Herausforderungen, die immer schwieriger zu meistern sind. Martens kennt die bei den Taliban herrschenden Gesetze nicht, er kann die Sprache nicht, er versteht Miriams unterwürfiges Verhalten nicht. Doch auch er tut, was von ihm verlangt wird, ohne zu wissen, wohin ihn die Reise führt. Ein Zurück gibt es schon längst nicht mehr, denn: hier lebt Martens wieder. Ein Leben, in dem es ums Existentielle geht.
Linus Reichlin ist seit seinem ersten Kriminalroman «Die Sehnsucht der Atome» bekannt als versierter Autor, der nicht nur spannende Geschichten erzählt, sondern dies in einer überzeugenden Sprache tut und eine Dramaturgie entwickelt, die sogartig wirkt. Der 1957 in der Schweiz geborene und seit vielen Jahren in Berlin lebende Reichlin versteht es, eigentliche literarische Filme zu schreiben, mit Schnitten, die kühn sind, verfasst in einer Sprache, die temporeich fliesst. Und ganz nebenbei gelingt es ihm, eine Liebesgeschichte zu erzählen, die alle Voraussetzungen erfüllt, kitschig zu sein – dies aber nie wird.
Linus Reichlin: Das Leuchten in der Ferne. Berlin: Galiani, 2013.