Bern–Follonica:
8 Stunden, 55 Minuten
Reisen aus einer Laune heraus waren bei mir in den letzten Jahren eher selten. Meistens war das Reisen mit Arbeit verbunden, mit einer Einladung zu einer Lesung, zu einer Tagung oder zu einem Vortrag. Doch diesmal ist es anders. Die Lust nach Meer!
Aber, um ehrlich zu sein, auch sie hat etwas mit einer Einladung zu tun. Der Filmcutter und Photograph Carlo Simeoni zeigt in der Casa Azul in Follonica seine neusten Photographien. Die Einladungskarte steckte im Briefkasten meines Ateliers. Und die Rechnung ist eine einfache: «Carlo lange nicht gesehen + Meer lange nicht gesehen + Speisekarte der Casa Azul lange nicht gesehen = Freude». Eine Unbekannte hat sie aber doch, die Gleichung. Wo rechne ich die Zeit ein? Oder kriege ich das hin, zeitlich?
Stell nicht solche Fragen! Das Manuskript kannst du ja mitnehmen, im Zug schreiben, am Strand! Stell dir vor: Das Meer als Sehnsucht, das Meer als Trauer. Jeden Tag die Boote! Ich nahm Martin Bieris «Europa, Tektonik des Kapitals» (Allitera) mit. Wenn schon eine solche Lustreise, dann eine mit politischer Lyrik!
«Aber interessiert dich die Dialektik von Melioration und Zerstörung, / der korrigierte Kontinent als Metapher politischer Ingenieurskunst, / wenn du 15 Stunden fährst, um im Seeland Salat zu schneiden?»
Ich kann nicht so viele Stunden Zug fahren, um nur eine Sache zu tun. Alles miteinander verbinden: die Ausstellung von Carlo, Texte besprechen mit dem Dokumentarfilmer Ruedi Gerber. Sie werden alle dort sein, in der Toscana. Denn es ist Sommer. Und Meer.
«Das sah aus wie ein richtiges Anarchistinnenleben / zwischen Genf und Mailand, und / Genua hattest du dir auch einmal in deine Biographie gewünscht.»
Zwischen Bologna und Florenz zeigt die Freccia Rossa ihre Geschwindigkeit, man drückt mir eine Zeitung und Getränk mit Snack in die Hand. Einen kurzen Moment lang glaube ich, berühmt zu sein. Aber nein, lacht die Kondukteurin: «Die Zeit! Wir haben Verspätung.»