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Zauber unserer Herbstwälder

«Was soll ich sagen?! Ich war dabei, als er zum ersten Mal Kraftorte hörte. Unsere Sonntagsspaziergänge hatten von nun an ein Ziel. Bald auch unsere Ferien. Die gesamte Literatur hat er verschlungen – mein Ruedi, der nie mit einem Buch in der Hand erwischt worden wäre. Wir haben die Grotte von Cumae besucht, waren in […]

«Was soll ich sagen?! Ich war dabei, als er zum ersten Mal Kraftorte hörte. Unsere Sonntagsspaziergänge hatten von nun an ein Ziel. Bald auch unsere Ferien. Die gesamte Literatur hat er verschlungen – mein Ruedi, der nie mit einem Buch in der Hand erwischt worden wäre. Wir haben die Grotte von Cumae besucht, waren in den karpatischen Wäldern und rasteten auf Waldlichtungen, die in alten Sagen beschrieben standen. Dort mit flackernden weissen Frauen, Blutfehden oder Hexenmorden. Das gesamte Gruselzeug, nur um ein Fleckchen Wald interessant zu machen. Ich habe nie verstanden, was er sich von diesen Plätzen versprach. Seine Enttäuschung natürlich immer enorm, die Tage nach unseren Expeditiönchen schwer auszuhalten. Ich habe ihm sein Lieblingsessen hingestellt und meinen Mund gehalten. Aber hätte er aufgehört? Es war ja nicht nur schlecht, dass er wieder was hatte, so ein Jahr nach der Kündigung. Der Fernseher blieb jetzt öfter aus. Nur die Spinner, die er sich in sein Kellerstudio einlud, die hätt’ ich nicht haben müssen. Wie sie da rumgeklappert haben mit ihren Wünschelruten und den Detektoren, die aussahen wie selbst gebastelte Staubsauger. Eines Morgens erhob er sich und zog los, ohne die Tür hinter sich zu schliessen. Volle drei Tage blieb er weg. Als ich dann mal langsam die Nummer der Polizei raussuchen wollte, stand er wieder da. Es war, wie sie immer gesagt hatten: Wer nur lange genug nach seinem Kraftort sucht, der wird von ihm gefunden. Ruedi ist in den Wald marschiert, auf eine kleine Anhöhe und von dort ins Innere einer kreisförmigen Baumgruppe. Dann erst einmal Stille. Ich wusste es sofort, als ich ihn im Türrahmen sah. Seine Augen blickten klar und fest. Er sprühte vor Energie. Sein Haar wurde wieder voller. Im Schlafzimmer…, also ich habe es sehr genossen. Was dann kam, kennen Sie aus der Zeitung. Bald musste er die Haare auf seiner Brust trimmen. Es spross auf seinem Rücken, den Armen, sogar sein Arsch war wie von Fell überzogen. Es hörte einfach nicht mehr auf. Jeden Tag hat er sich den Körper rasiert. Doch abends schlüpfte er wieder als Affe ins Bett. Die Muskeln schwollen ihm und schmerzten. Wo er ging, schleifte er eine Haarschärpe hinter sich her. Er war einfach nicht mehr derselbe. Schon klar, kamen wir kaum noch unter die Leute. Dem Yeti in der Migros begegnen? Dabei tat er doch niemandem was. Nur die Ärzte waren begeistert. Die konnten gar nicht genug bekommen von ihren Tests. Seine Zellen platzten vor Unternehmungslust, mutierten drauflos, machten rum, vereinigten sich, die drehten völlig durch. Natürlich hatten die Kraftort-Freaks ihre ganz eigenen Theorien. Ruedi war jetzt ihr Star. Wie Jünger gingen sie neben ihm her und begleiteten ihn in den Wald, wo er fortan lebte. Nicht länger als das Versuchstier – hier war er der Waldmensch. Einmal, so hat er mir erzählt, hätte er den Mond angeheult, nur so zum Spass. Aber machen wir uns nichts vor, sein Leben blieb gehetzt. Gewandt bewegte er sich durchs Gehölz, sprang auf Äste, lieferte sich Rennen mit verängstigten Füchsen, packte Tannen am Schlafittchen und schüttelte sie durch. Er glaubte, wenn er diese neuen Instinkte erforschte, käme er ihrem Geheimnis näher. Immer tiefer drang er ein. Doch der Wald wurde nur dunkler und kälter. Klar, versuchten sie ihm zu helfen. Mit Wurzelsuden, weiss der Teufel, von wem überliefert, Druidenwissen, doch Ruedi dämmerte es längst. Ich denke, er brauchte einfach seine Zeit, um sich zu stellen. In jener Novembernacht deckte er sich mit seiner schweren Haardecke zu und starrte durch die Zweige seiner Hütte in den Regen, der senkrecht und ruhig stand. Wieder verschwand er für drei Tage. Sie fanden ihn bei der kreisrunden Baumgruppe. Mit aufgeplatzten Adern. Ein muskelverquollener Körper in alle Richtungen verdreht. Stücke seines Darms hingen leuchtend rot in den Ästen wie Fetzen eines geplatzten Lastwagenreifens. Aus seinen Augenhöhlen rann gelb das geschmolzene Hirn. Ameisen krabbelten darin wie trunkene Partygäste im Glibber. Ruedi war immer ein feiner Kerl gewesen.»


Claudio Andretta: Orte der Kraft im Tessin. Aarau: AT-Verlag, 2015.

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