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«Man muss den Dägen in der Faust und nicht die Fädern in der Hand haben»

«Man muss den Dägen in der Faust und nicht die Fädern in der Hand haben»

Martin Bieri: Henzi Sulgenbach.

 

«Henzi Sulgenbach», das klingt – obwohl typografisch unter­einander angeordnet – zusammengehörig wie ein Herkunftsname: Henzi vom Sulgenbach. Schon im Titel verbindet der Autor, Dramaturg und Journalist Martin Bieri Mensch und Ort und lässt die Kombination so selbstverständlich und vertraut klingen wie «Minna von Barnhelm» oder «Emilia Galotti». Tatsächlich besteht Bieris Buch zum Teil aus einem Fragment gebliebenen Lessing-Drama, dem 1753 erschienenen «Samuel Henzi». Lessing verarbeitet darin das historische politische ­Geschehen um den gleichnamigen Berner Schriftsteller, Lehrer, Bibliothekar und Hauptmann, der 1749 wegen einer Verschwörung gegen das regierende Patriziat in Bern enthauptet wurde. Beeindruckt von Henzis uneigennützigem Streben nach Freiheit, ging es Lessing vor allem um die Darstellung des Verhältnisses von Recht und Gewalt, die Henzi trotz seiner patriotischen Bereitschaft zum Kampf gegen die Regierung immer zu verhindern suchte – weil ihm die Feder vielleicht doch lieber als der Degen gewesen ist.

Während Lessings Henzi mit den Genossen um die Freiheit kämpft, die Bedeutung von Freundschaft und Ehre aushandelt und schliesslich verraten wird, spürt Martin Bieri dem Genius loci, dem Geist des Ortes, nach. Der Sulgenbach, an dem sich die Verschwörer trafen und der von Generationen von Bernern gewerblich genutzt wurde, ist heute zur Hälfte eingedolt und verläuft unter der Erde. Bieri folgt seinem Lauf von Kühlewil vorbei an Gummersloch und Löölisberg, durch das Margeltäli und Liebefeld zum Loryplatz und bis zum Ufer der Aare. Dabei gedenkt er an verschiedenen «Haltestellen» der Menschen, die in vergangenen Jahrhunderten am Sulgenbach gelebt und gearbeitet haben, beschreibt Orte und Bauten, die entstanden und wieder vergangen sind. Immer wieder unterbricht der Spaziergänger Bieri die Vorbereitung der Revolution. Ganz in der Tradition vieler anderer literarischer Spazier­gänger werden (Ge-)Denken, Gehen und Schreiben zusammengeführt. Am Fusse beider Texte fliesst stetig der Bach: Eingefasst in Wellenzeichen für das Ungefähre (~) werden biologische Daten aufgeführt, die den Sulgenbach im Detail beschreiben und zusammen mit den Texten Lessings und Bieris doch deutlich machen, dass dieser mehr ist als nur die Summe seiner Teile. Mit dem Bach fliessen parallel zum Schreiben die Zeiten ineinander. «Was an einem Ort geäussert wird, kann dort nicht bleiben, wird nicht begraben und lässt sich nicht mehr finden. Es ist in den Himmel hinaus gesagt, der nirgends ein Ende hat, in die Luft, die kurz erzittert durch ein Wort, durch einen Satz, durch ein geschwungenes Schwert.» So fliesst auch der Sulgenbach durch die Jahrhunderte, entspringt nach Bieris Vorwort in Lessings erstem Aufzug und geht vor Ariane von Graffenrieds Epilog «im grossen Fliessen auf».

«Und das war es ja vielleicht, was Lessing versuchte», schreibt Bieri, «dass das Geschriebene mit dem Geschehenen übereinstimmte, übereinkomme, zusammenfliesse – und wer weiss aus welcher Richtung kommend und wohin dann weiter gehend –, doch dass die Wörter und die Welt sich fänden, an einem Ort.»


Martin Bieri: Henzi Sulgenbach.
Bern: edition taberna kritika, 2020.

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