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Markus Bundi: «Mann ohne Pflichten»

Markus Bundi:
«Mann ohne Pflichten»

 

Wie nah kann man einer literarischen Figur kommen? Wie tief in ihre Gedankenwindungen eintauchen? In welchem Masse mit ihr eins werden? Die Ich-Perspektive ist das eine – sie plausibel und vital zu machen, das andere. Bundi gelingt es. Obwohl wir anfangs kaum etwas über seinen ominösen Peter Meander wissen, der auf den ersten Seiten einem Boxkampf mit Bierdose auf dem Sofa beiwohnt, sind wir sofort Teil seiner Welt. Das ist ein grosser Genuss: Ganz ein anderer zu sein, in seinen Gedanken mitzufliessen und sich by the way ein wenig selbst zu verlieren. Wir zirkulieren durch Innensicht, erlebte Rede und Aussenschau. Wir begleiten den Protagonisten durch die Stadt, schauen zu, wie er Frauen beobachtet, Werbung und zweitklassiges Gefühls-TV bewertet oder Lessings «Emilia Galotti» liest. Kurzum: wir dürfen Schlendrian sein, weil sich der Held selbst dazu entschlossen hat. Nachdem er als Kurator jahrelang durch die Mühlen des Kunstbetriebs gegangen ist, sagt er sich nun los und beginnt, das vermeintliche Nichtstun zu geniessen. Wer den Kulturbetrieb mit all seiner Ausbeutung und den berufsmässigen Besserwissern kennt, weiss, warum sich das lohnen kann.

Dass Bundi hier nicht einfach nur einen erwartbar gestrickten Aussteiger ins Bild setzt, von dessen Mustertypen uns der Fernseher angesichts von gescheiterten Mallorca-Exilanten und sprachohnmächtigen Auswanderern tagtäglich zur Genüge erzählt, gibt diesem schmalen Bändchen seine starke Überzeugungskraft. Denn der romantische Rückzug ins Innere gelingt nur teilweise harmonisch. «Seine Erinnerungen liessen sich nicht abschütteln. […] Irgendwie musste er aus seinem Kopf herausfinden.» Meander kann nicht vergessen, schleppt Altlasten aus der Kindheit und einer vermaledeiten Beziehung mit sich herum. Was Bundi anschaulich zeigt, ist nicht mehr und nicht weniger als das allzu Menschlichste am Menschen: Seine Melancholie und Zerrissenheit, seine Zweifel und Hoffnungen.

Irgendwie sind wir also alle ein bisschen Meander, bewundern dessen Mut, spüren dessen Zweifel. Am Ende erkennen wir, dass es keine Perfektion gibt. Wir sind und bleiben stets die Summe unserer Einzelteile. Das Erlebte schreibt sich uns ein und ist mit keinem Cut auszulöschen oder abzustreifen. Was dabei Wahrheit, was Fiktion, was Erinnerung und Gegenwart ist, verliert zunehmend an Bedeutung: Die Psyche kennt eben keine Schubladen und Ordnungssysteme – dieses Chaos so zu fassen, dass es les- und erfahrbar wird, ohne seine Dynamik zu verlieren, mag man als den Kunstgriff der Geschichte bezeichnen. Klar, ganz neu mutet dieses Sujet nicht an, zumal der Autor mit «Die Rezeptionistin» (2014) bereits sein Spezialgebiet der Ich-Erschütterungen in mittlerer bis gefährdender Ausprägung besetzt hat. Nun schreibt er es allerdings in einer noch verdichteteren Analyse fort: genau, mit sicherer Feder und psychologischem Gespür.

Markus Bundi: Mann ohne Pflichten. Tübingen: Klöpfer & Meyer, 2015.

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