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Bern–Milano:
3 Stunden, 4 Minuten

Bern–Milano:  3 Stunden, 4 Minuten


Kaum im Zug, muss ich die Sandwichs aus dem -Reisesack holen. Ein Mann mit Chäppi und anhängenden, krausen Locken nimmt gegenüber Platz. Meine Tochter schaut ihn an, als wäre er einem ihrer Märchen-bücher entsprungen, ihr Bruder beisst in den Prosciutto. Ich lese. Wir haben nichts Märchenhaftes vor. Wir brauchen nur jeden Monat ein wenig italie-nische Luft. Auf nach Mailand! Zur Möbelmesse, aber nur «fuori salone». Matilda will wissen, was ich lese. «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse. Von Thomas Meyer», antworte ich. Sie ist erstaunt, dass ich den Titel auf Deutsch sage. Ich spreche nur Italienisch mit ihr und habe ihr auch stets die Gutenachtgeschichten ins Italienische übersetzt. Der Zug rast in den Lötschbergtunnel. «Es ist die -Geschichte eines orthodoxen Juden, dem seine Mutter eine Frau sucht.»

– «Hat dir deine Mutter gesagt, du sollst Mama…»

– «Hör auf bitte», lacht ihr Bruder Matteo.

Es gab eine Zeit, da hatte meine Mutter schon das -Gefühl, sie müsse mir eine Frau suchen…, will ich -beschwichtigen. – «Wie ist es?» – «Was?» – «Das Buch!»

«Die Inseln», sagt Matteo. Der Zug hält in Stresa.

– Mir gefällt die Mischung der Sprachen: Deutsch
und Jiddisch.

– «Liest du mir etwas vor?» – «Mach ich, aber ich -werde nicht übersetzen, ja?»

«Eigentlich wollte ich zurik in mein zimer, aber die mame versperrte mir den Weg: Tat ich einen Schritt nach links, tat sie einen nach rechz und stand wiedr vor mir. Es wäre ohnenhin nicht einfach geweijn, im engen koridor an ihr vorbeizukommen, aber o war es gänzlich ummeglech.»

«Mütter sind mächtig», meint Matilda ernst. «Und sie gehören nicht in ein Buch», findet Matteo. Der Mann mit Chäppi lächelt und verschwindet in Richtung Speisewagen. Ich lese weiter und freue mich auf einen guten Espresso in Mailand: schwarz wie die Nacht und süss wie die Liebe. «Milano Centrale», sagt eine Stimme. Auf der Rückreise werden wir nur zum Fenster hinausschauen! Matilda legt das Buch kurz vor dem Aussteigen in meine Tasche. Und fragt mich: «Bin ich eine Schickse?»

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