Monti di Lego
In Mergoscia studieren wir die Landkarte derart innig, dass es triftige Gründe gäbe, das Wandern bereits als erledigt zu betrachten.
In Mergoscia, einem unscheinbaren, einst von Kastanien und Katholizismen, heute von Schafen, Ziegen und von jenseits des Gotthards anreisenden Gästen über Wasser gehaltenen Dorf am Eingang zum Valle Verzasca, studieren meine Gefährtin und ich die Landkarte derart innig, dass es triftige Gründe gäbe, das Wandern bereits als erledigt zu betrachten. Schliesslich einigen wir uns auf eine Route, die uns via Monti di Lego in einigen Stunden nach Locarno führen soll. Die Wände meiner Seele sind tapeziert mit Neugierde, wir packen den Rucksack und legen los.
Die besorgniserregend trockenen Käsebrötchen, die wir mitführen, möchte ich unterwegs kulinarisch erhöhen mit einer würzigen Wegrandpflanze, weshalb ich mich bereits auf dem ersten, durch steilen Wald führenden Abschnitt so oft nach reizvollen Blättern umsehe, dass meine Gefährtin Ermahnungen aussprechen muss, den hüftschmalen, immer wieder mit Abgründen flirtenden Pfad nicht ganz ausser Acht zu lassen.
Nach einer kunstvoll gemauerten Steinbrücke klettert der Weg in den gegenüberliegenden Hang. Es liegt hier derart viel altes, trockenes Laub, dass es sich anfühlt, als spazierten wir durch Pulverschnee. Zusammen mit der Höhe gewinnen wir Überblick über die Streusiedlung Mergoscias; viele der uralten Rustici sind behutsam und traditionsbewusst renoviert. Schwierig ist es, dieses Dorf nicht zu mögen. Die Berge darüber jedoch gefallen nicht allen: als «zu steil, zu nah, zu hoch» hat der mit dem helvetischen Süden sehnsüchtig verbandelte Hermann Hesse die Tessiner Flanken vor hundert Jahren beschrieben. Entspricht eigentlich mein Eindruck, es würden nur Deutschsprachige, nie aber Romands ins Tessin fahren, einem wahren Umstand? Auf halbem Weg zu überzeugenden Antworten werde ich vom Anblick einer Pflanzenschönheit unterbrochen; ich zücke mein Messer und nehme sie mit.
Als wir den höchsten Punkt unserer Wanderung, die Monti di Lego, ein weite Aussichten offerierendes Bijou kleinerer Anhöhen, erreicht haben, packe ich, neben meiner Gefährtin im Gras sitzend, die «Enzyklopädie Essbare Wildpflanzen» aus, ein von Fleischhauer, Guthmann und Spiegelberger herausgegebenes Standardwerk, ein Ziegel, dreimal schwerer als alles andere,
das ich im Rucksack mitführe.
Bis ich allerdings zu wissen glaube, welche Pflanze ich gepflückt habe – immerhin möchte ich sicherstellen, kein Gift zu schlucken –, hat meine Gefährtin ihr Brötchen längst gegessen. Ich zögere, mich zwischen Teufelsabbisse, einer Knäuel-Glockenblume oder Breitwegerich zu entscheiden, und beisse schliesslich resignierend ins ungewürzte Trockenkäsebrot.
Undeutlich bleibt auch, wohin der Pfad verschwunden ist, auf dem wir hätten gehen wollen, und woher die breite Strasse kommt, auf der wir bald stehen. Alsbald stellen wir fest, dass die Karte, die wir in unserer Unterkunft entdeckt haben, bereits vor sechsundzwanzig Jahren gedruckt worden ist. Schön, nun beweisen zu können, dass die sekundären Funktionen langer Nasen gemeinhin unterschätzt werden.
Später am Nachmittag, endlich barfuss am Ufer des Lago Maggiore liegend, blättere ich nochmals mit leiser Verzweiflung im Botanikziegel – ist es vielleicht ein Habichtskraut, das ich oben gepflückt habe? «Iss das da!», empfiehlt meine inzwischen leicht gereizte Gefährtin und deutet auf eine Pflanze an der Böschung, «das ist Sauerampfer, ganz ungefährlich.» Recht hat sie: Die Blätter sind zwar ziemlich bitter, aber doch schmackhaft, mit gewissen Verwandtschaftsanklängen zu Rhabarber. Wer daran denkt, dass Sauerampfer im Tessin erba brusca genannt wird, spürt sogleich, wie ein Grossteil der Bitterkeit in undeutscher Sprachsüsse verschwindet.