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Rolf Lappert: «Über den Winter»

Rolf Lappert:
«Über den Winter»

 

Ja, er muss los. Wohin, ist egal, nur fort, nur weg von der gerade gemachten Begegnung, vom eben stattgefundenen Kennenlernen, von der Bitte, noch ein wenig zu bleiben. Es ist wie immer: Was anfängt in Lennard Salms Leben, das ist zu Ende, bevor der Startschuss verklungen ist. Manch einer würde von Bindungsangst reden und den «Fall» in ein psychologisches Thesen-Korsett zwängen. Ein anderer würde die Figur vielleicht einen Roman lang definieren, bis nichts mehr übrig bliebe als ein gemeinhin «autistisch» genanntes Wesen. Nicht so Rolf Lappert.

Lennard Salms Umrisse sind brüchig. Auf den ersten Blick – und vor allem auf den ersten Ton – erscheint die nach aussen getragene, unterkühlte Art seines Sprechens abweisend. Die eingedämmten Gefühlsäusserungen verunmöglichen die Annäherung, dieser immerzu Weglaufende ist in seiner Sperrigkeit bis zuletzt kaum fassbar. Vor allem dann nicht, wenn man ihn beim Wort nehmen will. Den immerzu verteidigten Abstand zu Lennard Salm knackt nur, wer sich um das von ihm nicht Gesagte bemüht – und gleichzeitig und hauptsächlich um das, was er tut, wenn auch nebenbei, selbstlos.

«Die Stille war ein unablässiges Innehalten…», heisst es gleich auf der ersten Buchseite. Der Satz ist Programm für den Roman und für Rolf Lapperts Schreibweise überhaupt: In Zeiten des themenübergreifenden Erklärungswahns und des Non-Stop-Geredes setzt er auf «Ruhezonen» rund um sein Personal – und auf die Bereitschaft seiner Leserschaft, diese selber zu erforschen. Das ist ein hoher und mutiger Anspruch eines Schreibenden, der quer zum Zeitgeist steht.

Zurück zu Lennard Salm, unserem Konzeptkünstler. Der lebt zu Beginn des Romans in Italien, sammelt Fundstücke, von denen sich das Meer befreit hat – um sie zu fotografieren: Schwemmgut, von Menschen ins Meer geworfene Gegenstände, kleinste und kühlschrankgrosse Dinge. Und dann, eines Tages, ein toter Säugling, festgebunden auf einem Ruderboot… Das sind Szenen, die man als Leser nicht vergessen wird. Mit dem feinsten Pinsel, mit den zartesten Farben ist Rolf Lappert hier am Werk, lässt weg, was nicht unbedingt gesagt werden muss, und erschafft eben dadurch eine melancholische Grundstimmung, die omnipräsent und kräftig ist.

Es ist kalt in Hamburg, die Alster gefroren, der Himmel und die Erde voller Schnee, als Lennard Salm, später im Buch, dort eintrifft. Helene, eine seiner Schwestern, ist gestorben und er zur Beerdigung angereist. Lennard geht tagelang durch die Stadt, frierend, vorwärts stolpernd ohne Ziel, die Strassen, die Menschen, die Liebe streifend – und einem «befreienden Gefühl der Verlorenheit» folgend. Letzteres erweist sich zunehmend als trügerisch: Denn Lennard ist doch zugehörig, der Welt und vor allem seiner Familie, wenn auch die Bindungen zerbrechlich sind und jederzeit gekappt zu werden drohen.

Auch die hier wieder zutage tretenden Leerstellen, die vermeintlich weissen Flecken im vom Autor gezeichneten Bild, sind voller Zartheiten. Das Verhältnis zu Bille, seiner anderen Schwester, und zu seinem sehbehinderten Vater, in dessen Wohnung – und damit in sein altes Kinderzimmer – er ziehen wird, ist spröde. Aber unter dieser Kühle brodeln starke Gefühle, die Salm mit liebevollen Handlungen, mit zahlreichen Hilfeleistungen preisgibt.

Was ihn dazu treibt, sein altes Leben, sein Künstlerdasein aufzugeben – dieser Lennard Salm weiss es selbst nicht so genau. Und Rolf Lappert, sein Autor, ist keiner, der Erklärungen liefert. Er traut seinen Lesern das Mit- und Weiterdenken zu. Und belohnt jene, die ihm folgen, mit seiner leisen Sprachkunst, der eine exemplarische Figur geglückt ist: Lennard Salm, überall und nirgends zu Hause, unabhängig von Menschen und Orten – aber mit einer grossen Sehnsucht im Herzen, nach Zugehörigkeit und Nähe. Oder sollte ich es «Liebe» nennen?

Rolf Lappert: Über den Winter. München: Hanser, 2015.

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