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Der Schweizer Erzähler

Sein bevorzugtes Werkzeug ist das literarische Skalpell: Peter Stamm seziert die Gesellschaft wie kein anderer Schweizer Gegenwartsschriftsteller. Unter dem Deckmäntelchen des literarischen Kleinods brodelt es! Ein Gespräch über Rebellen im Thurgau, gefühlsechte Romantiker und den erziehungsbedürftigen Max Frisch.

Der Schweizer Erzähler

Herr Stamm, Sie haben dieses Jahr schon alle möglichen Fragen beantworten müssen. Beginnen wir also einmal andersherum: worüber möchten Sie heute gerne sprechen? 

Über den Euro vielleicht?

Wieso über ein so trockenes Thema? 

Ganz einfach: ich bin bei einem deutschen Verlag. Ich bin ein Opfer der Euro-Krise, insofern ich mein Einkommen weitgehend aus dem Euro-Raum erhalte.


Am Hungertuch nagen Sie aber hoffentlich noch nicht? 

Nein. Mir geht es gut. (lacht) Ich beklage mich auch überhaupt nicht – Gedanken mache ich mir aber schon. Denn was genau da mit meinem Geld passiert, durchschaue ich nicht. Ich halte also zu dem Thema lieber den Mund. Wenn heute nicht einmal der Nationalbankpräsident weiss, was er mit dem starken Franken anstellen soll, wäre es wohl lächerlich, dass ich mir anmasste, an seiner Stelle darüber zu philosophieren.


Der deutsche Verlag ist vielleicht das bessere Stichwort: die Deutschen haben einen guten Riecher für Literatur. Ohne Peter Suhrkamp ist Max Frisch kaum vorstellbar. Welche Rolle spielt Frisch für Sie?

In meiner Generation hatte er für viele eine Art Vaterstatus. Vor allem für diejenigen, die ihn nicht persönlich kannten. Das führte zu einer kritiklosen Anerkennung, deren Grund mir bis heute schleierhaft ist. Ich mag Frisch, aber ich konnte diese Verehrung nie verstehen.


Was haben Sie an der Bewunderung genau auszusetzen?

Autoren sind keine Monolithe, Sie bedürfen der Kritik. Es ist ja weiss Gott nicht so, dass bekannte Autoren ausschliesslich gute Texte geschrieben hätten! Bei der Bewunderung geht es um etwas anderes: Frisch wird bis heute als Linker wahrgenommen, hat sich mit der NZZ geprügelt, sich mit dem Establishment angelegt. Damit hat er sich exponiert, anders als Dürrenmatt, der sozusagen herumschwebte und weniger greifbar war. Max Frisch ist eine Art Identifikationsfigur, weil er öffentlich zu einer Haltung stand, die heute als anständig gilt. Es macht ihn zu einer Art politischem Helden – aber auf Schweizer Niveau, wohlgemerkt! Und Sie wissen ja: bei uns sterben die Helden nicht.


Ihre kritische Betrachtung in Ehren, nur: sollten zeitgenössische Schriftsteller Frisch nicht viel eher wegen seiner Literatur
bewundern als wegen seiner politischen Ansichten?

Max Frisch war ein toller Beobachter, und er konnte wunderbare Beschreibungen seiner Beobachtungen produzieren. Sobald er aber beginnt, über sie nachzudenken, werden mir seine Texte zu repetitiv.


Konkreter?

Mit Werken von Frisch ergeht es mir zumeist so: die ersten 10 Seiten denke ich: «Wow, was der kann!» – und dann schreibt er auf 200 Seiten immer das gleiche. Es gibt Autoren, die brauchen Erziehung. Und Frisch gehört für mich dazu. Ich hätte ihm einen besseren Lektor gewünscht, der auch einmal sagt: «Max, fass dich kürzer!» Wäre der «Stiller» halb so lang, wäre er doppelt so gut.


Seine Stimme zu den verschiedensten Gesellschaftsthemen war stets für einen originellen Gedanken oder zumindest für eine Provokation gut. Unter den zeitgenössischen Schweizer Schriftstellern gibt es diese Provokateure nicht mehr.

Es gibt auch die Rolle des Allround-Intellektuellen nicht mehr – sie wird nicht mehr nachgefragt. Am ehesten hört man noch in den Bereichen Medien und Kommunikation auf die Stimme der Schriftsteller. Das hat seinen Grund. Schriftsteller sind politisch einfach nicht besonders kompetent, denken Sie nur einmal an Gottfried Benn oder Knut Hamsun…


Die haben sich politisch einspannen lassen. Das tut aber auch ein Günter Grass ganz gern.

Und das nicht zu seinem Vorteil, meine ich. Martin Walser ist immerhin noch ein blitzgescheiter Mann, bei Grass ist man sich da manchmal nicht so sicher.


Und Sie? Werden Sie gefragt? Immerhin sind Sie auch Politiker. 

Die letzten drei Anfragen zu politischen Themen kamen von der «New York Times». In der Schweiz wurde ich das letzte Mal nach meiner Meinung zu einem konkreten politischen Thema gefragt, als Blocher zum Bundesrat gewählt wurde. Ich gab zwei Texte ab. Sie wurden beide abgelehnt, weil sie zu aggressiv waren. (lacht)


Die Medien können also mit prononcierten Stellungnahmen seitens von Autoren nicht mehr umgehen?

Diesen Eindruck habe ich. Man erwartet vom Schriftsteller eher einen gepflegt-kultivierten Einwurf, ein bisschen links, aber bitte schön harmlos, so dass es nur ja niemandem wehtut.


In Ihren literarischen Texten finden sich neuerdings vermehrt sezessionistische Motive, ein implizites «Zurück zur Natur». Wird Peter Stamm jetzt zum Naturromantiker? 

Das gab es bei mir immer schon, die Romantik hat mich stets fasziniert: die Spannung zwischen dem Künstlichen, Kontrollierten, Konstruierten und dem grossen Gefühl.


Das klingt diffus.

Die Gedichte von Eichendorff sind meiner Meinung nach etwas vom Besten, das es in der deutschen Lyrik gibt. Sie sind… wie heisst es bei Waschmitteln? «Gefühlsecht»?


Das war bei Kondomen.

Stimmt. (lacht) Wie dem auch sei: die Romantiker haben schon sehr genau gewusst, was sie machten. Ihre Texte sind sehr empfindsam, gleichzeitig aber kontrolliert und strukturiert. Nicht impulsiv oder aus dem Bauch heraus, sondern sehr formalisiert. Das ist eine zunächst widersprüchlich anmutende Ausgangslage – damit aber auch sehr reizvoll. Intellektuell näher begründen kann ich mein Interesse aber nicht…


Ihrer Erzählung «Im Wald», einer Aussteigergeschichte, ist ein Zitat Henry David Thoreaus vorangestellt.  Sein «Walden» ist Pflichtlektüre für zivilisationsmüde Hippies.

Wenn man – wie ich – über den Wald schreibt, kommt man an Thoreau kaum vorbei. Ich habe im «Walden» herumgelesen, das Zitat erschien mir dann passend zu meiner Geschichte. Im übrigen benutze ich Zitate recht verantwortungslos: ich spiele gern. Ein grüner Anarchist bin ich nicht, da muss ich Sie enttäuschen.


Warum nicht?

Dazu bin ich zu schweizerisch, glaube ich. Aufgewachsen in einer Familie, in der dauernd über Politik diskutiert wurde, die mich als Bürger geformt hat und mir beibrachte, dass ich als Teil dieses Staates die Aufgabe habe, ihn mitzuformen. Dieses Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft ist typisch schweizerisch. Ich gehe abstimmen, war auch schon auf unzähligen Listen. Zum Glück wurde ich nie gewählt…


…und das, obwohl Ihr «Zurück zur Natur» und die Bio-Ideale der Grünen perfekt zueinander passen! 

In dieser Extremform sicher nicht. Die Schweizer Grünen sind heute doch recht unaufgeregt, eher technisch und problemorientiert. Das liegt mir einfach mehr als die Visionäre, die die Alltagspolitik vernachlässigen. Es gibt unter den Grünen heute auch kein Ideal einer «klassenlosen Gesellschaft» mehr.


Das nehme ich Ihnen jetzt nicht ab. Die Grünen waren doch stets die Partei, in der sich diejenigen gesammelt haben, die erstens von einer Natur im Gleichgewicht träumten und zweitens immer irgendwie «dagegen» waren.

Das sehe ich anders – ich finde die Grünen unideologisch, und das sagt mir zu. Ich bin in einem 9000-Einwohner-Dorf im Thurgau aufgewachsen. Dort war man als Jugendlicher grün, bevor es die Grünen überhaupt gab, hat gegen eine Umfahrungs-strasse und die Vergrösserung der Industriezone gekämpft, Zigaretten selbst gedreht, gemeinsam diskutiert. Zugleich waren wir, was Äusserlichkeiten anging, ziemlich ideologisch. Wer keine Jeans trug, war ein Klassenverräter. Ausserdem trug man per se diese olivgrünen Parkas mit dem deutschen Fähnchen am Ärmel. Wer nicht so war, gehörte nicht dazu.


Also doch – Peter Stamm im Kreise der Rebellen? 

(lacht) Der Unterschied von der Land- zur Stadtjugend war: bei uns führte das «Dagegensein» nicht zu Sachbeschädigung. Ich war zum Beispiel gegen diese 1980er Bewegung in Zürich, habe das für sinnlosen Krawall gehalten. Wir sind höchstens einmal auf die Strasse gegangen, um Unterschriften zu sammeln.


Klingt sehr brav. Wie steht es denn heute um die Jugendkultur?

Heute hat man glücklicherweise mehr Möglichkeiten, sich als Jugendlicher einen Stil, eine Gruppe oder eine Meinung zuzulegen – um sich eben darüber von anderen abzugrenzen. Ich bin oft in Schulen unterwegs, um dort aus meinen Texten zu lesen. Und ich sehe: die heutigen Jugendlichen sind viel unideologischer als meine Generation in diesem Alter. Viele Lehrer klagen sogar über die Angepasstheit ihrer Schüler. Ich sehe das eher positiv, denn auf diese Weise entwickeln die Jugendlichen eher ein Problem- als ein Ideologiebewusstsein. Sie glauben nicht mehr daran, dass irgendeine Partei alle Probleme lösen könnte.


Es gibt keine Helden und auch keine klaren Feindbilder mehr. Die Unterschiede gesellschaftlicher Gruppen sind oft nur noch semantischer Natur. In der Soziologie spricht man diesbezüglich von der «nivellierten Mittelstandsgesellschaft». Ist nicht vielmehr sie der Gegenstand Ihrer Texte als der vielzitierte «Alltag»? 

Ich habe nie versucht, historisch zu schreiben – und ich habe auch gar kein Interesse daran. Ich möchte unsere gegenwärtige Gesellschaft abbilden. Wenn Sie von einer Nivelliergesellschaft sprechen, sind Sie schon einen Schritt weiter und interpretieren. Ich schaue mich einfach um und schreibe, was ich sehe.


Sie finden Ihre Geschichten also auf dem wöchentlichen Weg zum Metzger?

Es ist tatsächlich so, dass ich ganz gewöhnliche Dinge beobachte, die ich dann literarisch ausarbeite. In einer Geschichte in «Seerücken» geht es um dieses busfahrende Pärchen, das Erwachsensein spielt, nebeneinandersitzt und Händchen hält. Diese beiden habe ich tatsächlich während einer Busfahrt gesehen und gedacht: die könnten auch 70 sein! In diesem Fall ging ich recherchieren, habe mich später an der Ecke, an der sie ausgestiegen sind, noch einmal umgesehen und sogar eine Beiz entdeckt, in der ich einen Kaffee getrunken habe – bloss um mir dann vorzustellen, wie die beiden gemeinsam dort sind. Es handelt sich um Wechselwirkungen zwischen der Realität und dem, was ich hinzudichten möchte. Hätte das Lokal anders ausgesehen, wäre auch eine andere Geschichte entstanden. Das ist das Schöne am Schriftstellerberuf: mit der Erfahrung wächst der Fundus an Motiven. Wenn man, wie ich, viel Zeit im Ausland verbracht hat, verändert sich auch das Weltbild – und mit ihm die literarischen Texte.


Wie hat sich also Ihre Literatur konkret verändert?

Meine ersten Bücher, die unveröffentlichten, hatten noch eine Message, die den Leuten mitteilen sollte, wie sie ihr Leben zu führen hätten. Das habe ich mir abgewöhnt. Ich erwarte von einem Buch, dass ich nach dem Lesen die Gegenwart und mein Leben klarer sehe. Aber die Antworten muss ich in mir selbst finden.


Sie wollen sich Ihre Probleme nicht mehr von der Seele schreiben. Literatur als Therapie ist wohl dennoch der am weitesten
verbreitete Schaffensmodus Ihrer Zunft.

Das glaube ich gar nicht mal. Selbst dort, wo man todsicher davon ausgeht, dass der Autor völlig deprimiert ist, stimmt das oft nicht. Beispiel Thomas Mann: man merkt seinem Stil an, dass er ein Spieler ist, ein gewitzter Scharlatan! Er schreibt aus grosser Freude heraus, obwohl seine Texte oft tragisch sind.


Bewundern Sie noch andere Kollegen für deren Stil?

Am Anfang waren meine literarischen Begleiter die Franzosen und die Amerikaner aus den 1920er Jahren, Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald. William Somerset Maugham wäre auch ein gutes Beispiel. Das ist ein Autor, der so eine Ruhe hat, alles sieht, beschreibt und nicht urteilt.


Das klingt nun doch nach mehreren Idolen. Haben Sie sich bei dem einen oder anderen etwas abgeschaut?

Nach Hemingway haben alle gedacht, sie müssten schreiben wie er. Sich einfach ein Idol suchen und dessen Stil kopieren, funktioniert aber nicht. Es gibt keinen Stil, der für jeden Autor funktioniert, ebenso wenig wie literarische Strategien oder Muster für jeden Autor gleichermassen funktionieren. Man kann den eigenen Stil nicht erlernen, er ist schon da, man muss ihn mit der Zeit nur freilegen. Meine Weltsicht ist positiv und ich hätte sicher ein schlechtes Gewissen, wenn ich feststellen würde, dass meine Bücher die Leser deprimieren. Es soll ihnen nach dem Lesen gut gehen, nicht schlecht.


So positiv-bunt, wie Sie das jetzt ausmalen, kommen Welt und Figuren in Ihren Texten aber nicht daher.  

Es geht um das, was ich einmal das «Glück des Butterbrotstreichens» genannt habe: die glücklichsten Momente sind eben nicht die Hochzeit oder der 40. Geburtstag. Es sind vielmehr die kleinen Momente, bei denen man im Alltag das Leben fühlt. Das Glück kann ja auch in kleinen Wiederholungen liegen, oder in der Erinnerung, oder in der Betrachtung aus der Ferne. Die endlosen Sommerferien von früher! Das gemeinsame Familienfrühstück…


…aber auch der Liebeskummer, die Antriebslosigkeit, das Unbehagen im eigenen Leben. Die Liste liesse sich fortsetzen.

Mir wurde schon häufig vorgeworfen, meine Literatur sei beklemmend und traurig. Der Tessiner Lyriker Alberto Nessi hat mich bei einer Lesung in Paris einmal verteidigt: «Das Schöne in der Literatur kommt durch die Sprache. Die Freude an ihr sollte positiv stimmen.»


Und auf den Inhalt kommt es nicht an? Soll das ein Witz sein? 

(lacht) Sie haben recht. Wenn ich eben von Eichendorff gesprochen habe, ging es genau darum: ob da nun Rehe im Wald stehen oder Gespenster umgehen – ist mir eigentlich egal. Denn wenn ich ein Eichendorff-Gedicht gelesen habe, geht es mir nachher besser als vorher. Der Inhalt ist nicht ganz unerheblich, aber die Qualität der Kunst liegt immer in der Form, allenfalls in der Übereinstimmung von Form und Inhalt.

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