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zvg.

«Schade, dass das uns
Männern vorenthalten wird!»

Über einen Theaterbesuch. Und unbekannte Beziehungsformen.

 

Verdutzt blickte ich zum Mittsechziger, der sich nach der Premiere meines Musiktheaters «Die Traumbeschauten» als erster neben mich gesetzt hatte. Anfangs hatte der Herr Lob gesprochen für das Stück über den Maler Egon Schiele: Aus der Perspektive von Schieles wichtigsten Frauen – der Geliebten Wally Neuzil und der Ehefrau Edith Harms – habe er ganz neue Facetten des Wiener Expressionisten kennengelernt: «spannend», «überraschend», «toll». Dann sprach er diesen Hammersatz. Ich wusste sofort, worauf der Mann abzielte: Wally Neuzil hatte Schiele einst eine Dreiecksbeziehung verwehrt.

«Ja, ja, die armen, eingesperrten Männer», sagte ich.

Der Theaterbesucher erzählte irgendetwas über seine Frau, die ihm einst ebenfalls im Weg gestanden sei, und ich driftete gedanklich ab zum norwegischen Autor Tomas Espedal. Dessen Buch «Gehen. Oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen» lese ich zum zweiten Mal, seit ich mich in einem Schreibstillstand befinde. Dort lande ich meist dann, wenn das Leben am prallsten ist: Neues Leben wächst in mir, und ich selbst wachse in mir bisher unbekannte Beziehungsformen hinein. Es fühlt sich gut an, Tomas Espedals Erzähler zu folgen, wie er sich immer wieder freimacht von der Gebundenheit an Menschen, Räume und Erwartungen, um durch Landschaften aller Art zu gehen. Dabei steht nicht die Beschreibung nordischer Fjorde oder griechischer Olivenhaine im Vordergrund, sondern die Fortbewegung – der Fortschritt! – des Körpers und des Denkens. «Es gibt einen Punkt, ein Stadium, in dem das Gehen spürbar eine Grenze überschritten hat; ich habe keine Lust mehr, haltzumachen, will einfach weitergehen, (…) so weit, dass es schwierig werden könnte, zu dem zurückzukehren, was normal ist (…)»

Ich blickte dem Theaterbesucher in die Augen und weiss heute nicht mehr, was ich alles sagte und was ich nur dachte: Ihm sei schon klar, dass auch Frauen das Verlangen verspürten, die Grenzen normierter Beziehungsformen zu sprengen? Sich auch als Mutter Fülle zu erlauben und trotzdem zu bleiben als dieselbe und eine andere? Das Bedürfnis loszugehen, durch neue Landschaften im Denken und im Sein, scheine er ja zu kennen – oder? Der Mann schaute an sich herunter – und sagte nichts mehr.

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