Seldwyla mit Zubringer
«Schummertal» und «Durcheinandertal», «Güllen», «Schilten» und «Jammers» – und am Horizont lockt «Güldramont». Warum finden sich im Mittelland so viele literarische Schauplätze? Die Literaturgeographin Barbara Piatti über die tatsächliche und die erschriebene Agglo.
Frau Piatti, Sie sind «Literaturgeographin». Was fällt denn Ihnen ein, wenn Sie an «Agglo-Literatur» denken?
Ein Buch von Christina Viragh, «Im April»! Es spielt auf vier Zeitebenen, aber immer am selben Ort in der Umgebung von Luzern. In einem Gebiet, das heute in die Kategorie Agglo fällt. Das Werk fängt an im Jahr 1415, als der Handlungsort ein Richtplatz war. Dann geht es über in eine Bauernhausgeschichte in den 1920er Jahren. In den 1960er Jahren steht am selben Ort ein Mietshaus, in dem auch die letzte Geschichte, die im 21. Jahrhundert verortet ist, spielt. Der Roman spielt nur an diesem einen Ort und unternimmt eine grosse zeitliche Tiefenschürfung. Die Agglo bietet sich an für solche historischen Schichtenmodelle.
Da sind wir schon mittendrin in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Was genau tun Sie als «Literaturgeographin» – und was fasziniert Sie daran?
Mich interessiert, wie bestehende Landschaften und Orte in fiktionale Räume verwandelt, wie sie zu Ausgangspunkten von Erzählungen werden können! Die Literaturgeographie fragt danach, wo die Literatur spielt und weshalb sie dort spielt. Darf ich etwas ausholen?
Gern.
Halten wir zuerst fest: Jede Fiktion besteht aus Handlung, Figuren, Zeit und Raum. Die Handlung ist häufig reine Phantasie, auch an die literarischen Figuren kommt man als – empirisch interessierter – Literaturgeograph kaum ran. Das ist unmöglich, selbst wenn sie nach lebenden Vorbildern gestaltet sind. Und bei der Zeit? Da wird es auch schwierig: ich habe nie verstanden, warum die Literaturwissenschaft sich lange so hartnäckig auf die Zeitebenen kapriziert hat und so wenig auf den Raum, der doch so oft literarisch zum Thema gemacht wird. Zugegeben, manchmal ist der literarische Raum bloss Kulisse, aber oft ist er ein ganz entscheidender Teil der «erzählten Welt» und wird nicht selten selber zum Akteur.
Konkreter?
Etwa in Naturkatastrophen wie in Ramuz’ Bergsturz-Roman «Derborance» oder wenn der Schauplatz bedrohliche Qualitäten annimmt wie in Hohlers «Der neue Berg». Aber nochmals zurück zu den besonderen Eigenschaften der Schauplätze in einer «erzählten Welt»: Sie sind eine Art Portal zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Denn der Schauplatz – wenn er ein realweltliches Pendant hat – ist jenes Zipfelchen der Fiktion, das man als Leser wie als Wissenschafter «erhaschen» kann. Wie sagte Umberto Eco in «Im Wald der Fiktionen» so schön: «Die fiktiven Welten sind Parasiten der realen Welt.»
So sehr man also als Autor versucht, neue Dinge zu erfinden, da ist immer ein Kern, auf den man sich bezieht, der der eigenen Lebenswelt entspringt.
Genau. Die Lebenswelt ist das Material, das ergänzt wird oder verwendet werden kann, um zusätzliche Welten zu erfinden. Denn Literatur kann reale und fiktive Orte zusammenbringen, auseinanderrücken, überblenden, umbenennen – und sie tut das auch ständig, daraus zieht sie nicht selten ihren Reiz. Denken Sie an Kafka: Alle nennen Kafka in einem Atemzug mit Prag! Tatsächlich gibt es nur zwei Kafka-Texte, die man mit gutem literaturwissenschaftlichem Gewissen in Prag lokalisieren kann. «Beschreibung eines Kampfes» ist einer davon. Am Anfang kann man auf alten Stadtplänen den Spuren der Hauptfigur folgen. Dann steigt sie auf den Laurenziberg. Und dort oben öffnet sich dann plötzlich eine fantastische, fast tibetisch anmutende Weite, die nichts mehr mit dem historischen Prager Stadtraum zu tun hat…
Stösst da die Literaturgeographie nicht sofort an ihre Grenzen – oder anders: stossen Sie persönlich nicht an die Grenzen des Abbildbaren?
Und wie! Das Spannende beginnt, wenn man darüber nachdenkt, was man alles nicht auf die Karte bringt. Ein gutes Beispiel sind die Sehnsuchts-, Erinnerungs- und Traumorte, für die wir in unserem Forschungsprojekt den Begriff «projizierte Orte» geprägt haben: Eine Figur befindet sich an Ort A, sehnt sich aber nach Ort B – das kann so weit gehen, dass Ort A dadurch völlig relativiert wird. So geschehen bei Max Frischs «Montauk». Montauk auf Long Island ist der Schauplatz, der Ort A, wo der Erzähler mit seiner Geliebten ein Wochenende verbringt. Als Raum wird dieses Long Island zwar aufgebaut, dann löst es sich aber auf, weil Erinnerungen an andere Orte, ans Tessin, an Zürich und Berlin, überdominant werden. B überlagert A – Long Island wird also zur Nebensache. Ein solches Netzwerk von Raumbezügen kann man zwar kartographisch darstellen, aber um zu zeigen, wie die Räume einander allmählich überlagern und verdrängen, dazu fehlen uns noch überzeugende Visualisierungsmethoden. In einem solchen Fall kehren wir zum literaturwissenschaftlichen Kommentar zurück und das ist auch gut so.
Fallen Ihnen zu solch projizierten Orten weitere Beispiele aus der Schweiz ein?
Jede Menge: Peter Bichsels «Hafen von Bern», Paul Nizons «Wohlensee», F. C. Delius’ «Stadion Wankdorf», alles anzuschauen auf den «Literaturlandkarten der Schweiz» 1. Man kann das auch weiter denken: Manchmal imaginieren die Autoren einen Ort, der zwar vielleicht auf den Karten existiert, den sie aber selbst nie betreten haben. Das beste Beispiel dafür ist Schillers «Wilhelm Tell» und der Vierwaldstättersee. Denn…
…Schiller war nie da.
Genau. Goethe hat ihn auf den Ort und den Stoff aufmerksam gemacht, ihm Karten und Material von einer Reise mitgebracht. Damit hat Schiller, der in Weimar in seinem Arbeitszimmer sass, die Region im Geist bereist. Zuvor hatte der Tell-Mythos bereits eine lange Reise entlang der Handelsrouten aus dem Hohen Norden zurückgelegt. Kurzum: der «Tell» ist ein literarischer Import, entstanden im Kopf eines Mannes, der sich in Weimar mit der Französischen Revolution beschäftigte. Und wieso? Nicht zuletzt wegen des hübschen Schauplatzes.
Was passiert nun mit einem solchen Ort, wenn er einmal literarisch erfolgreich markiert, ja placiert ist?
Zunächst hat Schillers «Tell» einen wahren Literaturtourismus-Boom ausgelöst. Ab 1804 haben viele Touristen das Stück als Reiseführer durch die Innerschweiz benutzt. Das ist die Rezeptionsseite. Aus Sicht der literarischen Produktion muss man beim Vierwaldstättersee über Jahrhunderte hinweg von «blockierten Zonen» reden. «Blockierte Zonen» sind Gebiete, die von einem Autor, einem Motiv oder von einer Story besetzt sind – hier: von Schillers «Tell», vom Drumherum und von der Wirkungsgeschichte. Es ist fast unmöglich, unbelastet an solche Orte wie die Hohle Gasse oder das Rütli heranzugehen, sei es für Krimis, Liebesgeschichten oder Utopien. Im Fall des Vierwaldstättersees fliessen erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Max Frisch, Thomas Hürlimann und Gertrud Leutenegger neue Ideen in diese Landschaft hinein. Die Landschaft wird dadurch literarisch wiederbelebt. Es gibt aber auch die Orte, die, einmal besetzt, nie wieder «frei» werden.
Das klingt alles ungemein spannend – aber auch sehr unübersichtlich. Wie geht die moderne Wissenschaft nun konkret mit dem Spannungsfeld Autor-Ort-Sozialisation-Fiktion um, mit dieser Unmenge an Informationen und Leerstellen?
Als wir im Jahr 2006 mit unserem «Literarischen Atlas Europas»2 angefangen haben, haben wir jeden Text – manuell – gelesen und mit dem Bleistift markiert, die Daten danach in eine Datenbank eingefüttert. Die Resultate lassen sich dann visualisieren. Die vielen neuen Möglichkeiten der digital humanities, die quantitativen Analysen grosser Datensätze, micro- und macro-analysis… wir haben mittlerweile sogar Programme, die Toponyme rausfiltern können!
Also: Flurnamen. Was machen diese Programme aber mit Schauplatzschöpfungen wie Dürrenmatts «Durcheinandertal» oder «Güllen»?
Wenn man es mit fiktiven Toponymen, erfundenen Ortsbezeichnungen oder ähnlichem, zu tun hat, kann das Programm natürlich noch immer keinen Abgleich mit einem Atlas finden – also fliegt der Begriff aus der Auswertung raus. Meinrad Inglins «Güldramont» ist auch so ein Beispiel: ewige Wälder, märchenhafte Horizonte und Weiten. Und: komplett fiktiv. Aber durch das Toponym, das mit Schwyz auf den ersten Blick nichts zu tun hat, aber bei der Lektüre durch Hinweise im Text und etwas Zusatzwissen, etwa zur Biographie des Autors, recht unmissverständlich placiert werden kann, gerät man in die richtige Lesestimmung, um sich einzulassen auf dieses Land hinter dem Vierwaldstättersee. Meiner Meinung nach wird es in näherer Zukunft auch keinen Algorithmus geben, der solche fiktiven Schauplätze erkennen kann. Dazu braucht es weiterhin die literaturwissenschaftliche und auch die lebensweltliche Erfahrung. Sie sehen: die Literaturgeographie ist nicht die alleinseligmachende Methode – sondern ein Hilfsmittel unter vielen…
…das uns eigentlich hier vor allem Aufschluss über die Literaturlandschaft Agglo geben sollte! Stattdessen waren wir auf Long Island, in Prag und am Vierwaldstättersee…
…und kommen nun endlich zum Seldwyla-Phänomen, das durchaus etwas mit der Agglo zu tun hat! (lacht)
Was ist denn das nun wieder?
Ein fiktiver Ort, aber ein besonderer: Bei Gottfried Kellers «Seldwyla» hatten seinerzeit viele reale Gemeinden das Gefühl, gemeint zu sein. Einige haben sich quasi darum beworben, Seldwyla zu sein, Baden beispielsweise oder Aarau. Keller hat darauf entgegnet, Seldwyla sei «ein Wölkchen, das übers Mittelland zieht» – also gar kein bestimmter Ort. Ähnlich funktionieren Dürrenmatts Schöpfungen «Güllen» und «Durcheinandertal». Hingegen ist Otto F. Walters «Jammers» eindeutig als Olten aufzuschlüsseln. All diese fiktiven Orte, bis hin zu Pedro Lenz’ «Schummertal» – Langenthal –, charakterisieren auf ihre Art das Schweizer Mittelland – das ja laut Bundesamt für Statistik heute ein grosser Agglomerationsbogen von Genf bis St. Gallen ist.
Die Agglo ist Seldwyla – und umgekehrt?
Man hätte damals sicher nicht von Agglo gesprochen, aber ja. Man kommt, wenn man die Agglo geographisch näher untersucht, rasch zum Schluss, dass sie kein exakt eingrenzbarer Ort ist – sondern eine Wolke aus vielen Punkten, die aber gewisse Eigenschaften teilen. Oder anders: die Agglo ist ein Netz von Räumen – von den Emmentaler Bauerndörfern bis zu den grossen Transiträumen. Dann wird der Literaturgeograph die Begriffs- und Bedeutungswolke beachten, die sich darum herum anlagert: Stichworte sind der Stadt-Land-Gegensatz, die Heimat, das Pendeln, die Mobilität, der multilocation lifestyle... aber auch örtliche Chiffren und Archetypen, die aus der Architektur kommen: alte Dorfkerne, hyperidyllische Wohnlagen – man ist immer im Nu auf einem Wanderweg. Es gibt noch die alte Bäckerei und das Dorflädeli, auch Kneipen mit Tiernamen, allerdings im Aussterben begriffen. Das Dorfleben auf der einen Seite – aufgefrischt von jungen Familien, die dorthin ziehen.
Und auf der anderen Seite?
Riesige Gewerbegebiete. (lacht)
Wir haben für diese Ausgabe viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller angefragt, die in der sogenannten Agglo leben oder über sie schreiben – und ihnen bei der Betrachtung dieser Lebenswelt keine Vorgaben gemacht. Es stellten sich zwei Dinge heraus: Bei «Agglo» denken selbst die dort ansässigen Schriftsteller an Gewerbegebiete. Und: «Agglo» definiert sich – auch in literarischen Texten – stets in Abgrenzung zu Stadt und Land.
Dabei gibt es in der Schweiz ja gar keine echten Grossstädte.
Genau darauf zielt meine nächste Frage ab: Hat das einen Einfluss auf Ihre Agglo-Themenwolke? Und auf Ihre Arbeit mit diesem «Schweizer Gegenstand»?
Ja, denn es führt dazu, dass Agglo immer auch Agglo von sich selbst ist. Anders als bei den Banlieues in Paris! Man müsste sich also vorab erst einmal auf eine Schweizer Agglo-Definition einigen – oder eine verfeinerte Typologie von aggloartigen Räumen erstellen. Als nächstes wäre die Frage dran, welche Werke dort spielen. Es würde sich ein Team hinsetzen und auf ein Profil der Agglo-Literatur hinarbeiten. Man würde einen Textkorpus erstellen, durch dessen Analyse und kartographische Visualisierung Trends und Möglichkeitshorizonte sichtbar werden. Dabei würde dann zum Beispiel sichtbar: In etlichen Texten präsentiert sich die Agglo als Raum, in dem Rückblenden in die Kindheit stattfinden! Figuren im Jetzt erinnern sich ans Damals. Dabei geht es oft um Zersiedelung: «Hier haben wir früher Verstecken gespielt – jetzt steht hier ein Einkaufszentrum.» Diese Melancholie über verlorene Landschaften ist ein Motiv der Agglo-Literatur.
Dieses Motiv scheint aktuell auch hochpolitisch…
Richtig. Aus folgendem Grund: viele Agglo-Bereiche haben die allerschnellsten Transformationen durchlaufen – dort ist nichts mehr wie vor zwanzig oder dreissig Jahren. In den schweizerischen Innenstädten und in der Bergwelt hat sich ein bisschen weniger geändert. Wenn ich C. F. Meyers «Jürg Jenatsch» in der Churer Altstadt und in der Bündner Bergwelt lese, kann ich mich immer noch einigermassen orientieren. Bei den Agglo-Transformationsprozessen ist das unmöglich. Ein anderer inhaltlicher Aspekt der Agglo-Literatur sind übrigens die Migrationsgeschichten. Das liegt daran, dass man Leute, die Migrationsgeschichten zu erzählen haben, selten in den Zentren trifft, wo die 3-Zimmer-Wohung heute 5000 Franken kosten soll. Der preisgekrönte Roman «Tauben fliegen auf» von Melinda Nadj Abonji funktioniert nicht zuletzt aufgrund gewisser Settings in der Zürcher Agglo. Diese Geschichte liesse sich in New York gar nicht erzählen.
Welche anderen Mentalitäten werden in der Agglo-Literatur noch produktiv genutzt?
Wenn man hinschaut, ist in der Agglo das echte wie literarische Personen- und Sozialisationsspektrum nicht geringer als in der Stadt. Wahrscheinlich sogar noch heterogener. Wenn man ethnographisch-literarisch hinschaut, ist da ein unglaublicher Reichtum. Es ist aber schwierig, diesen Reichtum noch genauer festzumachen. Ich kann mir vorstellen, dass das für viele Schreibende eher ein Reportagen-Thema ist als Material für einen Roman buddenbrookschen Ausmasses. Man nimmt die Agglo mehr über neues Kartenmaterial und angepasste Raumdefinitionen wahr denn als potenziellen literarischen Handlungsort. Vielleicht ist die Agglo ein so verbreitetes Thema, dass das zu zeitgeistig ist und demzufolge später zu schnell angestaubt wirken kann. Vielleicht ist «die Agglo» ein Diskurs, in dem die Literatur ihre Lücke erst noch finden muss.
Schwerpunkt: Agglographie