Und die Nilpferde kochten in ihren Becken
Oder: Was zum Teufel ist Beat-Literatur?
Mitte August 1944 beherrschte ein Mord eine Woche lang die Schlagzeilen der New Yorker Presse: Der blutjunge Beau Lucien Carr (1925–2005) hatte in dem als Homosexuellentreff bekannten Riverside Park an der Upper West Side seinem älteren Verehrer David Kammerer (1911–1944) zwei Stiche mit einem Pfadfindermesser beigebracht und den besinnungslosen, stark blutenden Körper in den Hudson River gestossen; die Arme des Opfers hatte Carr mit Schnürsenkeln zusammengebunden, seine Hosentaschen mit Steinen gefüllt: Die Leiche sollte rasch sinken. Von ausgewählten Kriminologen abgesehen, würde sich heute wohl kaum noch jemand für diesen Fall interessieren, wäre Carr nicht Teil einer Clique gewesen, die wenige Jahre später Weltliteratur schreiben sollte. Carr nämlich tauchte nach vollbrachter Tat zuerst bei seinem Spezi William Seward Burroughs (1914–1997) auf, dem damals 30jährigen Harvard-Absolventen, und beichtete ihm sein Verbrechen. Burroughs empfahl ihm, sich einen guten Anwalt zu nehmen, sich zu stellen und darauf zu berufen, dass er nur seine sexuelle Ehre habe verteidigen wollen. Danach traf Carr Jack Kerouac (1922–1969). Dieser hatte Kammerer gemocht, empfand Trauer, empfahl dem Mörder aber dieselben Schritte, die ihm schon der ungleich abgebrühtere Burroughs angeraten hatte; Carr und Kerouac schindeten an dem Tag noch so viel Zeit wie möglich für sich heraus, streiften durch ihre Lieblingsbars, sahen sich Filme an und trennten sich nur widerwillig am späten Nachmittag nach der verhängnisvollen Nacht: Sie wussten, dass ihr Leben nie wieder so unbeschwert sein würde wie zuvor. Die Tage der Unschuld waren gezählt.
Burroughs und Kerouac verfassten über diesen Fall einen aus Persönlichkeitsschutzgründen erst vor wenigen Jahren publizierten Roman. Meist in Wechselfolge schrieb Burroughs unter dem Pseudonym Will Dennison ein Kapitel, dann Kerouac eines unter dem Pseudonym Mike Ryko. Den Titel «And the Hippos Were Boiled in Their Tanks» (1945; dt. «Und die Nilpferde kochten in ihren Becken») hatte Burroughs von einem Nachrichtensender aufgeschnappt; die Radiomeldung bezog sich auf einen Brandunfall in einem Zoo. Das Bild der kochenden Hippos dürfte Burroughs’ Phantasie beschäftigt haben, steht aber überhaupt für einen Ausnahmezustand.
Ausnahmezustand – das ist ein genereller Parameter, um einschätzen zu können, was Beat-Literatur ist. Carl Weissner (1940–2012), der über 100 Bücher aus dem US-amerikanischen Underground ins Deutsche übersetzt hat, sagte einmal in bezug auf seine eigene Prosa, hierum würde es gehen: «Eigentlich will ich einen permanenten Zustand des Overload erzeugen, so dass man dauernd angespannt ist und denkt, jeden Augenblick fliegt die Sicherung raus.»
Blicken wir auf die Genese des Begriffs «Beat Generation» zurück, so wird sich dieser Ansatz bestätigen. Herbert Huncke (1915–1996), eine Schlüsselfigur der Strömung, äusserte Jack Kerouac gegenüber einmal auf die Frage, wie man sich wohl an ihre Generation erinnern werde: «I am beat.» Und Huncke, der Burroughs den ersten Schuss setzen sollte, meinte damit «beat to his socks»: abgebrannt, völlig heruntergekommen, geschlagen, fertig, kaputt. Ausnahmezustand pur.
Doch Kerouac trieb den Begriff – ohne seine erste Bedeutung zu vernachlässigen – weiter und verband ihn mit «beatitude» (lat. beatitudo): mit Glückseligkeit. Diese gegenläufige Lesart sollte sich inhaltlich bis zum Loslassen von allem, zur spirituellen Befreiung, zur Erlösung steigern. Das erklärt, warum so manche Beats Morgenlandfahrer wurden und sich auf den Buddhismus einliessen.
Die dritte Bedeutung von «beat» ist «Schlag». Beat meint dann Rhythmus, Drive, treibende Prosa, in der sich Ekstasen in ungeahnte Höhen jagen, ähnlich den Soli im Bebop, von Bird etwa: Charlie Parker. Kerouac beispielsweise experimentierte im Greenwich Village mit Jazzmusikern wie Zoot Sims. An der Schreibmaschine entwickelte er eine hohe Improvisationskunst. «First thought best thought», legte Kerouac als seine Maxime fest: Folge beim Schreiben deinem ersten Impuls, wie ein Saxophonist, der eine Improvisation spontan konstruiert. Das Musterbeispiel dafür ist der Roman «On the Road» (dt. «Unterwegs»). Kerouac brachte die Urfassung des existenzialistisch nomadisierenden, temporeichen Road-Buchs Anfang April 1953, angetörnt von Benzedrin, Kaffee und Zigaretten, in nur drei Wochen zu Papier: Er tippte sie direkt auf eine 120 Fuss lange Schriftrolle, die heute Kultstatus hat und in Museen präsentiert wird.
Zu dem harten Kern, aus dem die Beat Generation in den 40er Jahren hervorging, gehörte auch Allen Ginsberg (1926–1997). In ihm löste seine Indienreise 1962/63 eine Wende aus: Der Trip half ihm im Angesicht der rituellen Leichenverbrennungen in Kalkutta am Ufer des Ganges seine Todesangst und seine Todessehnsucht zu überwinden. Indische Meditationspraktiken, bei denen er lernte, «lieber in den Körper zu finden als aus der menschlichen Gestalt heraus», öffneten ihm Pforten der Wahrnehmung, die seine Experimente mit harten Drogen gerade verschlossen hatten. Auch seine von Jack Kerouac und Gary Snyder mental schon länger geschürte Konversion zum Buddhismus wurde in Indien weiter vorbereitet. Darüber hinaus wurde dort der Keim zu der Flower-Power-Bewegung, der Folgeströmung der Beat Generation, gelegt. Ginsberg sollte sie, zurück in den USA, als solche benennen. Zuvor schon aber hatte er sein Jahrhundertgedicht «Howl» (dt. «Das Geheul») geschrieben und zum ersten Mal am 7. Oktober 1955 in der Six Gallery in San Francisco in einer atemberaubenden Performance gelesen. Diese Lesung schlug ein wie eine Bombe. Sie beweist, dass sich der mündliche Vortrag direkter als jede Lektüre einbrennen kann.
Nachdem «Howl» 1957 von der Zensur, die dem Text pornographische Obszönität vorgeworfen hatte, freigesprochen worden war, setzte sich der Autor immer wieder für die Werke anderer ein, welche die Zensurbehörde aus dem Verkehr zu ziehen versuchte. Ginsberg war der Sprecher, der Anwalt, der Kopf der Beats. In den Medien war er omnipräsent. Fragte man einen durchschnittlichen US-Bürger, wer Allen Ginsberg sei, so hätte er mit grosser Wahrscheinlichkeit geantwortet: «Ein Politiker!»
Und so lag es 1995 auf der Hand, ihn um einen Beitrag zu bitten für den Katalog der, was die Rezeption und Anerkennung des Beat-Movements betrifft, bahnbrechenden Ausstellung «Beat Culture and the New America 1950–1965» im New Yorker Whitney Museum. In seinem Prolog legte Ginsberg die zentralen Ideen der Beat Generation dar; seine stichwortartige Auflistung wird hier etwas verkürzt wiedergegeben:
Spirituelle Befreiung, sexuelle Revolution, Befreiung der Homosexuellen, welche gewissermassen die Befreiung der Frau, die Befreiung der Schwarzen katalysiert, Gray Panther Activism
Befreiung des Worts von der Zensur
Entmystifizierung und/oder Entkriminalisierung einiger Gesetze gegen Marihuana und andere Drogen
Die Entwicklung des Rhythm and Blues zum Rock and Roll als hohe Kunstform, welche die Beatles, Bob Dylan und andere populäre Musiker bezeugen, die in den späten 50er und in den 60er Jahren durch die Dichter und Schriftsteller der Beat Generation beeinflusst wurden
Die Verbreitung eines ökologischen Bewusstseins, früh forciert von Gary Snyder und Michael McClure, der Fresh-Planet-Gedanke
Opposition gegen die Militärindustrie, gegen die Zivilisationsmaschinerie, wie das Burroughs, Huncke, Ginsberg und Kerouac in ihren Schriften betonen
Beachtung dessen, was Kerouac (nach Spengler) eine «zweite Religiosität» nannte, die sich in einer fortgeschrittenen Zivilisation entwickelt
Respekt vor dem Land und seinen eingeborenen Menschen und Kreaturen, wie ihn Kerouac in seinem Schlagwort aus «On the Road» forderte: «The Earth is an Indian thing.»
Die eigentliche Essenz der Beat Generation enthält der berühmte Satz aus «On the Road»: «Everything belongs to me because I am poor.»
Die Aktualität dieser Ideen braucht nicht weiter erläutert zu werden; sie wirken nach bis auf den heutigen Tag. The beat goes on – und zwar weit über die Lebenszeit der Gründerfiguren hinaus. Wie einflussreich Ginsberg noch Jahrzehnte nach «Howl» war, zeigte sich bei seinem Tod am 5. April 1997. Nie zuvor und nie wieder seither hat der Tod eines Dichters eine vergleichbare Menge an literarischen Texten ausgelöst: Nicht Dutzende – was ja bereits ausserordentlich wäre –, sondern Hunderte von Dichtungen provozierte sein Tod. Unter ihnen befindet sich «Allen Ginsberg Dying», ein Gedicht des «Howl»-Verlegers Lawrence Ferlinghetti (*1919), das die Einzigartigkeit des Verstorbenen herausstreicht:
Allen Ginsberg stirbt
4-9/4/97
Allen Ginsberg stirbt
Es steht in allen Zeitungen
Es kommt in den Abendnachrichten
Ein grosser Dichter stirbt
Aber seine Stimme
wird nicht sterben
Seine Stimme schwebt über dem Land
In Lower Manhattan
in seinem Bett
stirbt er
Es lässt sich nichts
dagegen tun
Er stirbt den Tod eines jeden
Er stirbt den Tod eines Dichters
Er hält ein Telefon in Händen
und ruft jeden an
von seinem Bett aus in Lower Manhattan
Rund um die Welt
spät in der Nacht
klingelt das Telefon
«Ich bin’s, Allen»
sagt die Stimme
«Allen Ginsberg am Apparat»
Wie oft haben sie das gehört
in all den langen grossen Jahren
Er müsste nicht einmal Ginsberg sagen
Auf der ganzen Welt
gibt es in der Welt
der Dichter nur einen Allen
«Ich will dir erzählen», sagt er
Er sagt ihnen was sich ab
spielt was auf ihn zu
kommt
Tod dunkler Liebhaber
über ihn sich beugend
Seine Stimme tragen Satelliten
über das Land
über das Meer nach Japan
wo er einst stand nackt
den Dreizack in der Hand
wie ein junger Poseidon
ein junger Mann schwarzbärtig
am steinigen Strand
Flut herrscht und die Seevögel schreien
Die Wellen brechen jetzt über ihm zusammen
und die Seevögel schreien
im Hafen von San Francisco
Es herrscht ein rauher Wind
Gewaltige schaumbekränzte Wellen
peitschen das Embarcadero
Allen ist am Apparat
Seine Stimme schwebt über die Wellen
Ich lese griechische Lyrik
Das Meer kommt darin vor
Pferde weinen darin
Die Pferde von Achilles
weinen darin
hier in der Bucht
von San Francisco
wo die Wellen weinen
Sie zischen Silben
zischen sibyllinisch
Allen
wispern sie
Allen
Doch einzigartig waren die Beat- und Post-Beat-Schreiber alle, «the best minds of my generation», wie sie Ginsbergs berühmter Eröffnungsvers von «Howl» feiert. Zu ihnen zählte etwa der begnadete, an Villon gemahnende Dichter Gregory Corso (1930–2001); als von zu Hause ausgerissener, straffällig gewordener 17-Jähriger wurde er in Clinton Prison, NYC, durch Bücher, welche ihm seine Zellennachbarn aushändigten, illuminiert – sein einem Atompilz nachempfundenes Figurengedicht «Bomb» (1957) erreichte einen weit über die Bewegung hinaus wirkenden Bekanntheitsgrad. Auch der in Woodstock lebende Ed Sanders (*1939), der das revolutionäre Little Mag «Fuck You!» herausgab, mit Tuli Kupferberg (1923–2010) die Fugs gründete, eine dreibändige Geschichte des Summer of Love und das beste Buch über die Manson-Family nebst zahlreichen Dichtungen schrieb. Und auch der Eigenbrötler Charles Bukowski (1920–1994), der unlängst verstorbene Amiri Baraka (1934–2014), der Dichterfotograf Ira Cohen (1935–2011), der Gonzo-Journalist Hunter S. Thompson (1937–2005) und viele weitere mehr gehören zu jenen originalen «best minds».
William S. Burroughs’ «Naked Lunch» ergänzt Kerouacs «On the Road» und Ginsbergs «Howl» zur Trias weltliterarisch bedeutender Beat-Literatur. Das Buch entstand in Tanger, im Hotel Muniria an der steil abschüssigen Rue Magellan vis-à-vis der Strasse von Gibraltar. Bill pflegte sich morgens in seinem Zimmer über dem kleinen Garten des Hotels Tee zu machen, «a bunch of joints» zu drehen und sich dann an die Schreibmaschine zu setzen. Die vollen Blätter riss er aus der Maschine und liess sie einfach zu Boden fallen, monatelang, so dass sich mit der Zeit ein mehrere Zentimeter dicker «Teppich» mit vollgeschriebenen Blättern bildete. Aus diesem Stock montierten Ginsberg und Kerouac in Kollaboration mit dem Antiautor den «Naked Lunch». Die Erstausgabe erschien 1959 in der Olympia Press, Paris, in einem Verlagshaus, das durch den Verkauf pornographischer Literatur die Drucklegung ausgewählter internationaler Avantgarde finanzierte.
«Naked Lunch» spielte, weltweit, eine konstitutive Rolle für das Selbstbewusstsein der Gegenkultur. Burroughs’ Biographie, seine offen verhandelte Homosexualität, seine offensiv explorierte Drogensucht, ebenso seine vor keinem Ausdruck zurückschreckende Sprache machten ihn zum Albtraum des etablierten Kulturbetriebs und zugleich zum Referenzpunkt der alternativen Szenen. Bereits «Naked Lunch» ist ein Montagewerk. Direkter noch gilt das für Burroughs’ spätere Romane, die unter Anwendung der von Brion Gysin (1916–1986) im September 1959 in Paris entwickelten Cut-up-Methode entstanden, einer Methode, die Texte verschiedener Provenienz willkürlich in Kolumnen zerschneidet und danach, die Kolumnen auf- und abschiebend und dabei querlesend, frei nach dem Belieben des (Anti-)Autors neu zusammensetzt.
Nun könnte auch dieser Essay den Eindruck erwecken, Ginsbergs Diktum, die Beat Generation setze sich aus einer Bande von Jungs zusammen, stimme. Doch de facto gibt es eine ganze Zahl von Autorinnen, deren Schaffen Kerouacs, Ginsbergs und Burroughs’ Schreibe flankierte: Neben Anne Waldman (*1945), Janine Pommy Vega (1942–2010), Diane DiPrima (*1934), Denise Levertov (1923–1997), Hettie Jones (*1934), Elise Cowen (1933–1962), Joyce Johnson (*1935), den Punk-Ladies La Loca (*1950), Kathy Acker (1947–1997), Patti Smith (*1946) und anderen mehr wäre beispielsweise Lenore Kandel (1932–2009) zu erwähnen. Sie gab 1966 auf nicht einmal 10 Seiten «The Love Book» – eines der weltschönsten Erotica – in San Francisco heraus. Ein Jahr danach wurde das schmale Bändchen vom höchsten kalifornischen Gerichtshof in einem landesweit Aufsehen erregenden Prozess indiziert (die Zensur wurde 1973 aufgehoben). Darin formulierte Kandel das Credo, das ihrer spirituell aufgeladenen erotischen Lyrik zugrunde liegt: «The Divine is not Separate from the Beast.» Ein Satz, der Spinozas Formel «deus sive natura» variiert; er kann für die Beat-Literatur generalisiert werden.
Burroughs seinerseits setzte sich 1981 nach Lawrence, Kansas, ab. Er hielt ein Methadonprogramm durch, kümmerte sich um seine Katzen, ging regelmässig schiessen und schrieb Texte, die einen eigenen Antikosmos ausloteten, so «Western Lands», «The Cat Inside» oder «Ghost of Chance». 1997 starb er an einem Herzinfarkt. Drei Tage vor seinem Tod notierte er ins Tagebuch seine letzten Worte, die abschliessend herunterbrechen, worum es der Beat-Literatur letztlich geht: «Nichts ist genug. Es gibt kein Ende für Weisheit, Erfahrung – nicht eine verdammte Sache auf der Welt. Keinen heiligen Gral, kein letztes Satori, keine endgültige Lösung. Nur Konflikte. Das Einzige, was zur Lösung von Konflikten beitragen kann, ist Liebe, so wie ich sie für Fletch, Ruski, Spooner und Calico empfand. Reine Liebe. Das, was ich für meine Katzen empfinde und empfunden habe. Liebe? Was ist das? Das natürlichste schmerzstillende Mittel, das es gibt. LOVE.»