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Von Durcheinander und Chaos

 

Von Durcheinander und Chaos
(c) Christof Moser

Halte ich das Durcheinander nicht mehr aus, reise ich ins Chaos. Ich besteige in Zürich den Zug und fahre nach Berlin. Das mag nach Flucht klingen, ist für mich aber eher therapeutische Auszeit. Und gehört zu den grössten Privilegien von uns, die wir uns Schweizer nennen. Halten wir das Durcheinander unserer kleinen Welt nicht mehr aus, können wir uns im Chaos der grossen Welt davon erholen. Im Notfall fliegt uns die Rettungsflugwacht wieder zurück.

Der letzte Waggon des ICE 278 überquert gerade die schweizerisch-deutsche Grenze bei Basel, als ich «Durcheinandertal» beiseite lege. Sieben Stunden Bahnfahrt aus dem pittoresken Zürich ins nackte Chaos Berlins liegen vor mir, um über Friedrich
Dürrenmatts letzten abgeschlossenen Roman nachzudenken. Manche sagen, Dürrenmatt sei mit diesem Buch kurz vor seinem Tod auf dem Höhepunkt seiner Erzählkunst angelangt. Gerade mal 176 Seiten ist es dick, die Handlung dicht an der Grenze zur Unverständlichkeit und trotzdem rasch umrissen: Moses Melker, ein steinreicher Emmentaler und Frauenmörder, entwickelt eine bizarre Theologie der Armut, die Reiche von der Last ihres Reichtums befreien soll. Ein Gangstersyndikat, das unter dem sinnigen Namen «Swiss Society for Morality» firmiert, formt daraus ein lukratives Geschäftsmodell. Im Durcheinandertal, einer tiefen Schlucht, von einem Wildbach in den Berg gefressen und auf beiden Seiten durch steile Felsen begrenzt, erwirbt das Syndikat ein Hotel und baut es zum «Haus der Armut» um. Es ermöglicht den Reichsten der Reichen, wie die Ärmsten der Armen zu leben. Sie nächtigen auf kargen Pritschen, die «von jeder Menschenrechtskommission mit Entrüstung für unzumutbar erklärt worden wären», erfreuen sich an jämmerlich schlechtem Essen und arbeiten eine Saison lang gratis für Betrieb und Unterhalt des Hotels – während das Syndikat ihre verwaisten Villen plündert.

Das Durcheinander hat eine verborgene Ordnung. Das Chaos hingegen ist Zufall. Und die Schweiz ist das Welthauptdorf des Durcheinanders, sie ist das Gegenteil von Zufall. Berlin ist ihr weltstädtisch-deutschsprachiger Antagonist. Ich besuche ihn, wenn ich meinen Kopf befreien muss, um die verborgene Ordnung im Durcheinander zu erkennen, von der ich als Schweizer durchdrungen bin. Nur die Ferne erlaubt mir diesen unverstellten Blick. So wie sich die Reichen im Durcheinandertal vom Reichtum befreien, meine ich, mich in Berlin von dieser Schweiz zu befreien. Was kosmopolitisch tönt, ist vielmehr provinziell, vor allem aber sinnlos. Wo auch immer wir Schweizer sind auf dieser Welt, wir sitzen doch im goldenen Käfig. Eigentlich versichere ich mich im Exil ja bloss: ja, sie ist noch da, die Schweizer Gemütlichkeit, in der es sich so bequem einrichten lässt.

Friedrich Dürrenmatt, so wird mir klar, als ich mit 280 Sachen pro Stunde durch den deutschen Herbstwald fliege, der bei dieser Geschwindigkeit zu einem rot-orange leuchtenden Feuerball verschwimmt, hat diesen goldenen Käfig nicht nur als solchen erkannt, er verzerrte in seinem Lebenswerk die vermeintliche Befreiung aus diesem Käfig ebenso zur Groteske wie die Überhöhung unseres Lebensgefühls im gewollt-wohlgeordneten Durcheinander, das wir Schweizer im Glauben, der Welt so trotzen zu können, mental wie politisch perfektioniert haben. Im Kern jedoch war Dürrenmatt allem Hadern und allem Widerspruch zum Trotz (und anders als sein Landsmann Frisch) dankbar dafür. Das Chaos der Welt, das sich im mörderischen Irrsinn des Zweiten Weltkriegs entlud, prägte Friedrich Dürrenmatt, der Militärdienst leistete, als sich die Deutschen gerade in Stalingrad aufrieben, zeitlebens stärker als die landläufig verbreitete intellektuelle Abneigung gegen das gelobte Land, in dem er zufällig geboren war.

«Die Schweiz macht den Menschen bis zu einem gewissen Grade frei, weil sie in seinem Kopf nicht zu einem unlösbaren Problem wird. Der Schweizer braucht nicht immer an die Schweiz zu denken», sagte Dürrenmatt 1966 im Gespräch mit dem Journalisten und Schriftsteller Alfred A. Häsler. Aus dieser Freiheit heraus, die er als Luxus erkannte, schöpfte Dürrenmatt seine Weltliteratur, befreit von diesem ebenso verlogenen wie bequemen Selbstbetrug, sich im Schweizerisch-Provinziellen verstecken zu können, oder schlimmer: ihm entfliehen zu wollen. Dürrenmatt war (wieder im Gegensatz zu Max Frisch) keiner, der an der Schweiz leiden musste, um sie beschreiben zu können, was ihm zupass kam: Er reiste nämlich ungern. Dürrenmatt pries den Kleinstaat, der hiesige Intellektuelle bis heute elend beengt, als übersichtliches und ungefährliches Konstrukt, was er formvollendet in seinen wohl berühmtesten Satz packte: «Die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern.» Damit hat er aber nicht, wie oft falsch interpretiert, die gutschweizerische Welterlösung vom Bösen skizzieren wollen; vielmehr ist es die Mahnung, sich mit der Ausweglosigkeit, Schweizer zu sein, zu arrangieren und das Beste daraus zu machen, auch wenn es nur wenig weiterhilft. Sein Schaffen sieht er in den «Stoffen I–III» darin charakterisiert, dieser Welt «Welten entgegenzusetzen, (…) gezwungen, eine Welt der Sinnlosigkeit darzustellen, in der ein Sinn gesucht wird, den es nicht gibt, ohne den sie jedoch nicht ausgehalten werden kann; (…) eine Welt, überwuchert von Bildern, die immer neue Bilder erzeugen, durchsetzt von Gründen, die auf immer neue Gründe hinweisen, um ihre eigene Sinnlosigkeit zu verschweigen; so habe ich mir aus meinem privaten Labyrinth ein Weltlabyrinth erschaffen».

Das Durcheinandertal ist in diesem Lichte eine Miniatur der Schweiz, in die das Chaos der Welt einbricht, das eigentlich immer schon da war, aber wohlgeordnet von einer verborgenen Ordnung, die in uns allen, die wir uns Schweizer nennen, ein subtiles Gefühl der Schuld auslöst, dessen Unausweichlichkeit keiner schonungsloser offenlegte als Friedrich Dürrenmatt. Er beschreibt diese verborgene Ordnung im «Durcheinandertal» als mafiöse Struktur, installiert von einem Boss der Bosse, der unfassbar bleibt und sich gottähnlich über alles erhebt, vertreten durch seine Adlaten Michael, den Mann fürs Grobe, und Gabriel, seinen Privatsekretär, rechtlich abgesichert von der Anwaltskanzlei «Raphael, Raphael & Raphael». Michael, Gabriel und Raphael haben auch die Thronengel geheissen, die dem biblischen Moses erschienen sind, womit wir wieder bei Moses Melker landen, uns allen also, die wir uns Schweizer nennen – und vom Chaos der Welt profitieren, solange es uns nicht selber einholt.

Die Einheimischen des Durcheinandertals, ungefähr 80 Familien an der Zahl, holt das Chaos ein. Lebten sie früher vom Tourismus und bildeten dank des Kurhotels eine ökonomische Einheit, sehen sie sich wegen der reichen Selbstversorger in ihrem Dorf plötzlich mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. Das florierende Geschäft mit der Armut, gepredigt wie eine Religion, bringt das Durcheinandertal aus dem Gleichgewicht und stürzt es ins Chaos. Als Elsi, die 14jährige Tochter des Gemeindepräsidenten, in einer Milchlache von Marihuana-Joe vergewaltigt wird, verteidigt nur von Mani, dem Hund ihres Vaters, bricht die Apokalypse in die einst friedliche Talschaft ein. Es folgt ein Armeeeinsatz gegen den Hund und schliesslich eine infernale Feuersbrunst, die von der heilen Welt nur Asche übrig lässt.

Inspiration für die Szenerie holte sich Dürrenmatt im Unterengadin, genauer: im altehrwürdigen Kurhotel Waldhaus in Vulpera, in dem der Schriftsteller regelmässig Gast war. Dort verfasste er den grössten Teil seiner Notizen, was Dürrenmatt später Besuch der Polizei eintrug: Am 27. Mai 1989, nur sechs Wochen, nachdem er das Manuskript für «Durcheinandertal» abgegeben hatte, brannte das Hotel Waldhaus bis auf die Grundmauern nieder. Brandstiftung, Täterschaft bis heute unbekannt.

«Wir tun so, als ob wir ein freies Land wären, dabei sind wir nicht einmal sicher, ob wir uns überhaupt noch gehören», lautet Dürrenmatts Schlüsselsatz in seinem letzten grossen Werk. Er hat damit vorweggenommen, was 1989 nur Monate nach Erscheinen des Romans mit dem Mauerfall die Schweiz in Mark und Bein treffen sollte und bis heute beschäftigt: das Ende der Gewissheit, automatisch zu den Gewinnern zu gehören, das nagende Gefühl breiter Bevölkerungsschichten, nicht mehr von der verborgenen Ordnung zu profitieren, von der bisher alle profitiert hatten, sondern Teil eines allzu welt-lichen Chaos zu sein, das man rhetorisch bekämpfen, aber sicher nie besiegen kann. Das Ende vom Mythos trifft uns alle gleich, ob wir reich statt arm sind oder Schweizer oder beides.

Mein Zug hält im Berliner Hauptbahnhof. Ich steige aus und tauche ab ins Chaos. Im Kopf das Durcheinander, das es nicht mehr gibt.

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