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Endstadium

War Hermann Burger zu laut? Oder zu anspruchsvoll? Die Kritiker nannten ihn eine «Kanone des bildungsgeschwollenen Kalauers», der Autor selbst setzte das Krankheitssyndrom «Lesen» bei seinen Adressaten voraus. Wie krank muss man heute sein, um Hermann Burger wieder zu entdecken?

Es ist Sonntag, der 26. Februar 1989, und Hermann Burger zu Gast bei Roger Schawinski auf Radio 24. In die Sendung «Doppelpunkt» mitgebracht hat der Schriftsteller den taufrischen ersten Band seiner geplanten «Brenner»-Tetralogie: den Tabakroman «Brunsleben», dessen Erscheinen vom Suhrkamp-Verlag auf den 1. März angekündigt ­worden ist. Dem mit einem Vorabexemplar versorgten Moderator bereitete die Lektüre des Buches ­allerdings herzlich wenig Freude. Das sei, meint er, «so weit weg von dem, was man normalerweise ­unter Sprache versteht», dass man damit schlicht keinen «grossen Publikumserfolg» haben könne. Burger nimmt’s mit Humor und retourniert den Ball so: «Was heisst: ‹kein grosser Publikumserfolg›? In der Schweiz, sage ich immer, gibt es 3000 Leser. Wenn ich 3001 Bücher verkaufe, dann ist das schon ein Publikumserfolg.» Die Antwort macht Schawinski spontan zwar schmunzeln, beim zweiten Über­legen wird er aber irgendwie doch stutzig: «Nein, es gibt natürlich viel mehr als 3000 Leser. Sind etwa alle, die Isabel Allende lesen oder Patrick Süskind, keine Leser?» Darauf wiederum der Autor: «Das (…) sind mildere Leser. Die haben das Krankheitssyndrom ‹Lesen› in einer milderen Form.» Er hingegen, und während diesem Satz gerät Burger jetzt selbst ins Lachen, «möchte die, die es im akutesten letalen Stadium haben». Schliesslich immerhin noch eine kleine Entwarnung in der Sache geistige Verfassung seiner Wunschleser: «Sie müssen nicht manisch-­depressiv sein – sie müssen eine gewisse Freude ­haben an Sprache, die spielerisch ist», an einer «fellinihaften Sprache».

Ob, wer etwas über die Qualität von Literatur ­erfahren will, bei Schawinski an der richtigen Adresse sei? Geschenkt! Im Interview, das zwei Tage vor Burgers Tod über den Äther ging, kommt aber dennoch und in lustigem Kleid aufs Tapet, was auch von berufenerer Seite öfters problematisiert wird. Ein Beispiel: In seiner Kolumne «Fragen Sie Reich-Ranicki» in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vom 3. Juni 2008 erinnert der deutsche Kritiker-Papst an «rise and fall» der Werke jenes Autors, den er zu dessen Lebzeiten bis zum Gehtnichtmehr ­gefördert hat: «Die Reaktion der Kritik auf einige ­Bücher Burgers war beachtlich, teilweise sehr ­respektvoll. Der Publikumserfolg liess nicht auf sich warten, hielt sich aber doch in Grenzen. War seine Prosa für viele (…) Leser doch zu anspruchsvoll?» Dabei dürfte Burgers (hoher) Anspruch genau in dem bestehen, was er mit der Krankheit Lesen im End­stadium umschreibt und mit der Freude an einer spielerischen Sprache meint.

Spielerisch ist zunächst sein Umgang mit den Wörtern. Er dreht und wendet sie, ergötzt sich an Palindromen wie «Reliefpfeiler», an Umkehrungen wie Leben–Nebel, an Fremdwörtern wie «Penis-­Plethysmographie» oder kreiert aberwitzige Neologismen, indem etwa das Aufnehmen der «Mamamnese» Schöllkopfs – des «Helden» seines zweiten Romans «Die künstliche Mutter» von 1982 – zur ­Diagnose «Multiple Matrose» führt. Ja, selbst die Grammatik der Wortbildung bleibt dabei nicht unangetastet, wenn für Substantive auf einmal recht ist, was eigentlich nur für Verben billig wäre – einen Modus aufzuweisen nämlich: «‹de Töd›», heisst es im dreizehnten Quartheft von «Schilten», dem Roman, mit dem er 1976 seinen Durchbruch geschafft hat, «für einen eventuell eintretenden Tod».

Spielerisch sodann ist – und man darf oder soll sogar dabei ruhig an Gottfried Benns gleichnamiges Gedicht denken – der «Satzbau». In Burgers Texten dominieren komplizierte Schachtelsätze. Sätze, deren Struktur zuweilen einer Babuschka gleicht. Oder mit dem Begriff, den der Autor in seinem Artikel zur «Entwicklung der jüngeren Schweizer Literatur» im «Tages-Anzeiger» vom 21. Juli 1984 selbst zur ­Bezeichnung seiner akrobatischen Syntax eingeführt hat: «Polypenkonstruktionen», «Vielfüssler-Sätze» also, die mit der Schlichtheit des «Wand­tafelsatzes» à la Peter Bichsel rein gar nichts mehr am Hut hätten (wobei Burger das spitze Wort «Wandtafelsatz» übrigens bei Dieter Bachmann ­stibitzt hat). Wie dies im Extremfall aussieht, kann nachgelesen werden in seiner Erzählung «Die Wasserfallfinsternis von Badgastein», für die er 1985 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt.

Spielerisch endlich ist, über die Wort- und Satzbildung hinaus, auch die Art und Weise der Textkomposition im Ganzen. Wenn der Schriftsteller Burger ans Werk ging, dann waren der Journalist Burger und vor allem der Germanist Burger immer schon mit von der Partie. Was dieses Triumvirat in Personalunion dementsprechend produzierte, ist eine abenteuerliche Bastelei aus Faktenhuberei
und Literarhistorie. Eine Art «écriture sauvage», in der zudem wiederholt Schreiben und Lesen selbst ­thematisiert werden und sich zeitliche Rück- und Vorblenden ein rasantes Stelldichein mit der ­erzählten Gegenwart geben. Und so ausgelotet ­beziehungsweise auf die Spitze getrieben werden die Möglichkeiten des Erzählens eben zum Beispiel auch im Roman «Brunsleben», in dem sich der ­autofiktive Protagonist Hermann Arbogast Brenner auf die «Suche nach seiner verlorenen Zeit» begibt. Hierbei dienen – besonders prominent, aber doch nur nebst vielen anderen – Marcel Prousts «Recherche» und Theodor Fontanes «Stechlin» als Folien der Handlung und wird die Leserschaft überdies mit Fachwissen aus der Tabakbranche ­regelrecht bombardiert. Dass «mildere Leser» darob vor lauter Bäumen bald einmal den Wald nicht mehr sehen, versteht sich fast von selbst.

Der verkappte Aristoteliker Schawinski moniert gegenüber Burger im Interview denn auch prompt, eine «Geschichte» sei doch eigentlich etwas, das ­einen «Anfang hat und ein Ende». Im mitgebrachten Text jedoch gehe es sprachlich derart «wahnsinnig» zu und her, dass er «die Geschichte fast nicht finde». Klassischer Fall von: des einen Leid, des andern Freud. Menschen mit der Krankheit Lesen im End­stadium nämlich kommen gerade dadurch erst so richtig auf ihre Kosten – zumal sich ihr «Krankheitsgewinn» darin noch nicht mal erschöpft. Wer sich in Burgers sprachliche Vexierbilder aus «facta» und «ficta» hineinsaugen lässt, wer deren Zeitsprünge und Abschweifungen mitmacht, der findet zusätzlich höchst originelle «Geschichten» von einer ­abgründigen Komik: beispielsweise einen Kongress von Eremiten, die sich nur durch Morsen verständigen können, weil sie ans Schweigegelübde gebunden sind, oder ein radikal unvergnügtes Schulmeisterlein in der tiefsten aargauischen Provinz, das seinen Unterricht von Heimat- auf Todeskunde umgestellt hat, oder einen Wasserfall, der sich umbringt usw. ­Solches und noch vieles mehr ist bei Burger zu finden. Wie überhaupt das Komische, das am Abgrund des Tragischen balanciert, einer der guten Gründe sein dürfte, Burger zu lesen.

«Der Tragödie, dass wir weder über den existentiellen Introitus noch über das Exitusgeschehen ­Bescheid wissen», schreibt Burger in seinem Essay «Ecco! Wie ich im fünften Nebenberuf Amateur­magier wurde», der am 15. Dezember 1979 im ­«Tages-Anzeiger-Magazin» erschienen ist, dieser Tragödie «kann man als Schreibender nur mit ­Komödien und Grotesken (…) begegnen. Von Finsternis zu Finsternis gilt die Devise ‹Perire et delectare›.» «Zugrunde gehen und erfreuen»! Das ist also der Wahlspruch von Burgers Kunst, der aus seiner Erzählung «Diabelli, Prestidigitateur» von 1979 stammt. Wie sein tragikomischer Magier, der «illudiert und illudiert und dabei (s)ein Selbst verjuxt» hat, will offenbar auch der Autor mit Horaz’ «prodesse et delectare» nur noch zur Hälfte etwas zu tun haben. «Nützen» war gestern – allerdings nur, ­sofern man darunter eine platt verstandene «littérature engagée» begreift, gegen die Burger in seinem 1987 veröffentlichten Aufsatz «Schweizer Literatur nach 1968» wettert. Denn natürlich «nützt» auch seine Literatur sehr wohl, beschert sie doch zumindest «kranke Leser» auf deren Weg «von Finsternis zu Finsternis» mit jenen Augenblicken des Lachens, in denen die Zeit auf Zeit aufgehoben ist.

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Zirkus

Das Jahr wechselt die Hand. Wir greifen in ein leeres Jahrtausend hinaus Balancieren noch ein Weilchen auf seinem Rand, Küsschen da, Küsschen dort, die Kunst- reiter schwitzen und begreifen erst jetzt – wie H.B. uns lehrte – dass die Arena älter ist als die Welt.

Der Daseinsartist

Hermann Burger wäre am 10. Juli 2012 siebzig Jahre alt geworden. Er gehört zu den talentiertesten Schriftstellern der 1970er und 1980er Jahre, und doch hat man ihm zu Lebzeiten ­immer wieder vorgeworfen, sein Werk sei, in allen Frech- und Freiheiten, nicht gut genug, es sei etwas zu leicht, zu reisserisch. Erst post festum hat man […]

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