Abstieg in die Tiefenpsychologie
Exzentriker allesamt, Abenteurer, Profilneurotiker, verrückte Forschungsreisende und Geltungssüchtige. Schon die ersten Bergsteiger eroberten das Nutzlose nicht aus nationalistischem, sondern aus persönlichem Wahnsinn. Auch der Höchste der Gefühle, der Everest, wurde nicht, wie Hillary meinte, bestiegen, «weil es ihn gibt», sondern weil es sie gab: die Getriebenen, genauer: die Hochgetriebenen. Aber was treibt sie eigentlich? Die […]
Exzentriker allesamt, Abenteurer, Profilneurotiker, verrückte Forschungsreisende und Geltungssüchtige. Schon die ersten Bergsteiger eroberten das Nutzlose nicht aus nationalistischem, sondern aus persönlichem Wahnsinn. Auch der Höchste der Gefühle, der Everest, wurde nicht, wie Hillary meinte, bestiegen, «weil es ihn gibt», sondern weil es sie gab: die Getriebenen, genauer: die Hochgetriebenen. Aber was treibt sie eigentlich? Die wenigen Extremen und die vielen Begeisterten? Dazu hat beinahe jeder Gipfelstürmer sein Stück Hosensack-Psychologie parat, doch damit müssen wir uns nun nicht mehr länger abspeisen lassen: Der Psychotherapeut Dr. Manfred Ruoss hat sich der Frage professionell angenommen, und Alpinisten, die sich trauen, können jetzt nachlesen, aus welchen unheimlichen Quellen sich ihre Motivation speist. In seinem Buch «Zwischen Flow und Narzissmus» macht sich Ruoss auf den Weg durch exemplarische Autobiographien der Bergliteratur. Im Rucksack sein Wissen als langjähriger Psychotherapeut und die Erfahrung aus über tausend Patienten-Anamnesen. Als interessiertem Bergsteiger, der sich selbst einen «alpinistischen Universaldilettanten» nennt, war ihm aufgefallen, dass sich viele Berichte prominenter Höhenbergsteiger wie psychopathologische Befunde lesen. Alles scheint dort in leicht verschlüsselter Schreibe versammelt: Anzeichen von ADHS, Borderline, rücksichtslosem Narzissmus, Suchtverhalten, Kontrollwahn und Egomanie. Wo sich der Freizeitbergler einem erfüllenden Flow hingibt und mit Befriedigung aus der Natur zurückkehrt, kippt bei vielen Extremen die Rekordjagd in eine zwar freimütig beschriebene, aber unerklärliche Leere und Depression. Bergsteigen ist eben doch komplexer als blosser Sport, und es scheint, als böte diese Betätigung vielen psychischen Defekten geradezu ideale Entfaltungsmöglichkeiten. Ihnen spürt Ruoss in den Selbstdarstellungen berühmter Berghelden nach und blickt in Broken Homes, wo es von abwesenden Vätern nur so wimmelt oder solchen, von denen man sich wünscht, sie wären es gewesen. Leistung in den Bergen wird zum inneren Zwang, die beschädigte oder traumatisierte Persönlichkeit kurzfristig zu stabilisieren, sie wird zur verzweifelten Ersatzhandlung, die nach immer höherer Reizdosis verlangt und der alles geopfert wird. Spätestens hier durchfährt einen in diesem locker erzählten Buch ein eisiger Schrecken. Gelten doch unter Politikern und Wirtschaftsführern die Leistungsprinzipien extremer Bergsteiger als Lehrstücke, die sie sich oft und gerne in Vorträgen, die ganz auf ihre Gedankenwelt zugeschnitten sind, zu Gemüte führen lassen. Doch wo Bergsteiger nur sich selbst schädigen mit ihren – ausserhalb der Felswelten – erwiesenermassen lebensuntauglichen Vermeidungsstrategien und lediglich Seilkameraden und Angehörige verschleissen, da besteht bei Managern, die in einem psychologischen Krankheitsbild ein Ideal sehen, das fatale Potential, ganze Unternehmen mit sich in den Abgrund zu reissen. Glücklicherweise bewegt sich Manfred Ruoss’ «Psychologie des Bergsteigens» aber nicht allein in diesen extremen Zonen. Und so ist sein Buch auch für jeden, der einen harmloseren Wandervogel hat, eine erhellende Lektüre. Sich selbst nimmt der Autor dabei nicht aus und streut in seine Untersuchung persönliche Erlebnisse ein, die einem oft sehr bekannt vorkommen. Denn einen Knacks haben wir wohl alle. Aber wenigstens einen mit weiten Tälern und hohen Graten, mit von Sonne durchfluteten Wäldern, geheimnisvollen Zinnen und dunkel schimmernden Nordwänden. Einen Knacks, in dem ewiger Schnee und überwältigende Tagesanbrüche, Mühsal und Kälte und Rausch und Freude liegen. Gipfel warten auf uns. Und wenn wir einmal davon zu erzählen beginnen, hören selbst die Verstocktesten kaum mehr auf. Solches geschieht aber eher auf dem Sonnenbänklein als auf der Couch des Therapeuten.
Manfred Ruoss: Zwischen Flow und Narzissmus. Die Psychologie des Bergsteigens. Bern: Hans Huber, 2014.