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Alberto Nessi: «Miló»

Alberto Nessi:
«Miló»

 

«Literatur ist Phantasie gewordene Realität», sagt Alberto Nessi in einem Film von Bastien Genoux zum Schweizer Grand Prix Literatur 2016. Das Credo ist Programm: Der diesjährige Literaturpreisträger aus dem Tessin beobachtet die Menschen seit jeher einfühlsam – gern und häufig gibt er auch darüber Auskunft. Ihn inspirieren alltägliche Dinge, ein Gespräch zwischen Vater und Sohn in einem Zug zum Beispiel, eine Blume, eine Erinnerung. «Ich schreibe mit der Hilfe der anderen», gesteht er und sammelt weiter Begebenheiten, die er literarisch weiterverarbeitet. Es ist eine schöne Vorstellung, dass der Schriftsteller unter uns lebt, neben uns geht.

«Wenn das Reale gefiltert in unser Bewusstsein tritt», sagt Alberto Nessi, «wird es zu einer Vorstellung.» Zu einer Vorstellung der Welt im allgemeinen, möchte man ergänzen, die Nessi am Beispiel einzelner aus dem Grenzgebiet Schweiz–Italien beschreibt, deren Lebens- und Leidensgeschichten immer auch etwas Universelles haben. Der Ausnahmeautor aus dem Sottoceneri beschreibt seine Figuren als vermeintlich gewöhnlich und doch aussergewöhnlich stark: Seine Erzählungen richten ihren Fokus auf einfache Menschen, die im Zweiten Weltkrieg in den Widerstand gingen und dafür mit dem Leben bezahlten. Oder auf Tessiner, die ihr Dorf nie verlassen haben und doch viel über die Welt wissen. Spürbar wird beim Lesen, dass alles so vergänglich ist und das auch unumgänglich ist. «Es wäre nötig, dass hinter der Tür eines jeden glücklichen Menschen jemand steht, der ihn durch das Klopfen mit einem Hämmerchen ständig daran erinnert, dass es unglückliche Menschen gibt», schreibt Tschechow – und Nessi verwendet diese Überlegung als Motto seiner Erzählung «Čechovs Hämmerchen». Man könnte diesen Satz auch zum Motto des ganzen Bandes machen – und das ist eigentlich schade. Denn die Menschen in Nessis Erzählungen wirken traurig, weil er ihnen das Vergehen der Zeit einschreibt, das sie vielleicht gar nicht selbst empfinden, auch wenn er es immer sehen kann. Der Erzähler bewegt sich als Flaneur an den Orten und zu den Menschen, denen er sich verbunden fühlt, zu denen er aber doch nicht ganz gehört. Die Geschichten der Menschen sind traurig nur für denjenigen, für den das Erzählte immer schon Vergangenheit ist. Es ist nicht einzuholen. An diesen Leben hat der Erzähler nur rückblickend teil. Das Gegenwärtige beschreibt er meist als Überforderung oder als sehr flüchtig. In der Gegenüberstellung von Damals und Jetzt erscheint das Damals immer zuverlässiger, von Dauer sind nur Erinnerungen: «Da, allmählich, kommen sie alle hervor, um mir ihre Geschichte zu erzählen, und sie erkennen mich, Wanderer im Land der Toten, die lebendiger sind als die Lebenden, ich habe die gleichen Ängste und Wünsche wie sie.»

Alberto Nessi gefällt die Vorstellung, die Welt wie durch eine Glasscheibe zu sehen. Die Literatur, sagt er, sei diese Glasscheibe: sie filtere das Beobachtete und verlängere und bereichere das eigene Leben. Bei aller Eleganz, die in seinem Schreiben steckt, bei aller Nostalgie, die aus diesen Zeilen spricht: Man wünscht ihm manchmal Tschechows Hämmerchen. Damit er vernähme und verarbeite, wie schön – und wie lange! – auch das Lachen der Lebenden klingt.

Alberto Nessi: Miló. Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug. Zürich: Limmat, 2016.

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