Peter Zeindler:
«Urknall»
Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ist Benjamin Lorant in seiner falschen Biographie angekommen. Im Herbst 1988 wurde er von der Stasi mit falscher Identität nach Genf geschickt; als ein Jahr später die Mauer fiel, gewann er zwar seine Freiheit, verlor jedoch seinen Auftrag. Ein Zurück gab es nicht, weil er sich, gegen alle Regeln, mit seinem operativen «Zielobjekt» bereits liebend liiert hatte. So ist Lorant «ein anderer» geblieben, dem es in seiner falschen Identität durchaus wohl ist. Allerdings scheint er nicht der einzige zu sein, der um seine Vergangenheit weiss. Ein mysteriöser Fremder namens Petrow zwingt Lorant, hinter die Urknall-Experimente beim CERN in Genf zu kommen – und sie zu sabotieren.
Mit dieser verfänglichen Situation variiert Peter Zeindler die Muster des Agententhrillers aus Zeiten des Kalten Kriegs – er schreibt sie fort, indem er die alten Gespenster nochmals aufleben lässt. Von Petrow, hinter dem alte Seilschaften stecken, erpresst, muss Lorant sich erneut als Agent betätigen, will er seine behagliche bürgerliche Existenz unter falschem Namen nicht verlieren. Zugleich beginnt er sich an sein richtiges Leben in der DDR zu erinnern, zurück an jene Jahre, in denen er noch Johann Blume hiess. Während sein zweites Leben gefährdet ist, fährt Lorant nach Leipzig, um Auskunft über sein vormaliges Dasein zu suchen. Es ist ein heikles «Lavieren zwischen Fiktion und Realität», das immer stärker an seinen Nerven zerrt. Zeindler balanciert diese Spaltung mit bewährtem Sinn für Spannung aus.
Wie der Titel signalisiert, geht es ums Ganze: persönlich und global. Lorant beginnt sich zu erkundigen und gerät ins politische Minenfeld. Stasi, KGB und CIA spielen ihre dubiosen Rollen, als sei die Mauer nie gefallen. Das eigentliche Spiel jedoch findet auf anderem Terrain statt: im Reich der alten DDR-Gespenster, zu denen Lorants Mitspieler gehören. Auch sie haben nach der Wende viel zu verlieren, sollten ihre Stasi-Akten doch noch zum Vorschein kommen.
Zeindler liefert mit «Urknall» einen souverän aufgebauten Thriller ab, der sich immer tiefer in Lorants persönliche Geschichte verstrickt. Diese psychologische Verdichtung indes wird durch die permanenten bildungsbürgerlichen Zitate (Bach, Mozart, Goethe) etwas gar überstrapaziert. Das mindert letztlich seine Glaubhaftigkeit – doch was heisst schon «glaubhaft» in einem permanenten Maskenspiel, bei dem alle auf der Suche nach ihrem eigenen geschichtlichen Verhängnis sind.
Peter Zeindler: Urknall. Basel: Friedrich-Reinhardt-Verlag, 2011.