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Annette Hug: «Wilhelm Tell in Manila»

Annette Hug:
«Wilhelm Tell in Manila»

 

Der philippinische Augenarzt und Dichter José Rizal operiert im Frühjahr 1886 an der Universität in Heidelberg. Er verarztet fechtende Studenten, lernt Deutsch und beendet «Noli me tangere», ein Epos über die spanische Herrschaft in seiner Heimat. Zugleich beginnt Rizal eine Übersetzung von Schillers «Wilhelm Tell» in seine Muttersprache Tagalog. Er ahnt nicht, dass er bald selbst zur tragischen Symbolfigur des Freiheitskampfes wird. Als zehn Jahre später in Manila die Revolution losbricht, gerät Rizal in den Verdacht, ein Hauptführer des Aufstands zu sein. Obschon er unschuldig ist, wird er von einem Kriegsgericht abgeurteilt und erschossen.

Die Schweizer Autorin Annette Hug macht in «Wilhelm Tell in Manila» aber nicht diese dramatischen letzten Tage Rizals, sondern die Zeit, in der seine Schiller-Übersetzung entstand, zum Zentrum ihres Romans: In einer minutiösen Rekonstruktion der historischen Begebenheiten lässt sie ihre Leser in den Denkhorizont des philippinischen Poeten eintauchen, der sich in Deutschland inmitten eines Wirrwarrs von Sprachen an alte tagalische Redensarten zu erinnern versucht. Hug entwirft das Leben José Rizals parallel zur Geschichte des «Wilhelm Tell» – und verwebt den Prozess seiner Übersetzung mit Rizals Erinnerungen an die ferne Heimat.

Die Autorin, durch ihr Studium in Manila mit dem Tagalog bestens vertraut, hat Rizals «Guillermo Tell» zunächst für sich ins Deutsche zurückübersetzt. Aus den Abweichungen von Schillers Original rekonstruiert sie Rizals Prozess der literarischen Aneignung: Das Übersetzen wird auf diese Weise zu einem poetischen Prinzip. In der Vorstellungswelt ihres Rizals überlagern sich die Schweizer Berge und die tropischen Hänge des Vulkans Makiling und in den Grausamkeiten der Habsburger spiegeln sich Rizals Erinnerungen an die spanische Unterdrückung: die Verhaftung der Mutter, die Rizal als kleiner Junge erlebt; die ständigen Erniedrigungen durch die spanische Guardia Civil; das Blutbad bei der Besetzung der Universidad Central in Madrid. So versetzt Hug den «Wilhelm Tell» in einen globalen Horizont und der Schweizer Gründungsmythos wird selbst zur Kolonialgeschichte.

Dabei läuft die Autorin nie in Gefahr, den Mythos des helvetischen Freiheitskämpfers auf die Figur des José Rizal zu übertragen. Stattdessen zeichnet sie den Filipino als intellektuellen Übersetzer, der sprachlich zwischen den Kulturen agiert und es versteht, die spanischen Zensoren mit der überwältigenden Komplexität des Tagalog zu narren, um so an ihnen vorbei Schiller auch in seiner Heimat bekanntzumachen.

Es ist Annette Hugs historischer Genauigkeit geschuldet, dass Rizals Biografie und das «Tell»-Drama zuweilen etwas weit auseinanderdriften. Durch den klaren Fokus auf Rizals Deutschlandaufenthalt verliert der Roman phasenweise jenen Überblick, den es bräuchte, um die beiden Erzählebenen aneinander zu spiegeln. An den besten Stellen des Buches treten Mythos und Geschichte des Widerstandes jedoch in einen faszinierenden Dialog.

Annette Hug: Wilhelm Tell in Manila. Roman. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn, 2016.

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