Arbeitslosenode
«Ich gucke dann doch lieber einen Porno, da muss nach dem Kommen keiner gehen.»
Morgens stehe ich auf
was mir nicht mal sonderlich schwerfällt
obwohl ich im Grunde liegenbleiben könnte
denn ich habe nichts zu tun
ich habe keinen Job
was mich aufregen, deprimieren oder in Panik versetzen sollte
aber es ist mir egal
im Gegenteil: ich bin froh, aus allem raus zu sein
ab und an schreibe ich IT-Artikel oder Rezensionen zu Büchern
die ich freiwillig nie lesen würde
nicht weil’s mich interessiert
sondern weil ich’s kann
ich warte auf meine Tage
ich bin über … fällig
wahrscheinlich sind’s die Wechseljahre
Wechseljahre –
dämlicher Begriff
ich wechsle nichts
weder Geld noch die Wäsche und auch nicht meine Identität
manchmal formuliere ich im Kopf ein Gedicht
aber bis ich mich aufraffe
es aufzuschreiben
ist’s mir meistens entfallen
um 5 nach 3 gucke ich «Bares für Rares»
für gewöhnlich der Höhepunkt des Tages
die Händler sind Gentlemen alter Schule
sie begrüssen die Frauen mit gnädige Frau
und verabschieden sie mit auf Wiedersehen die Dame
simple Anstandsformeln, die ich schon länger vermisse
ich überlege, was ich veräussern könnte
aber ich kann mich von nichts trennen
und müsste für die Sendung nach Köln fahren
also lass ich’s bleiben
auch wenn dort mein erster Freund lebt
und ich mir denke, dass es schön wäre
ihn mal wiederzutreffen
aber er hat eine Frau und keine Haare mehr
also kann ich mir das auch sparen
gegen halb 5 mache ich einen späten Nachmittagsschlaf
ich bin immer müde
das liegt wohl an der Lungenentzündung
die ich mir in Guatemala zugezogen habe
vielleicht bin ich aber auch nur einfach so träge
weil ich alt werde
oder endlich mal Zeit habe
und dreissig Jahre Schlafmangel kompensieren muss
morgen muss ich aufs RAV
wenn man das laut ausspricht
klingt das wie eine Terrorgruppe aus den 70ern
und irgendwie trifft das auch zu
ich mag keinen sehen
und nirgendwo hingeh’n
oder Rechenschaft ablegen
alle zwei Tage kaufe ich Lebensmittel ein
damit ich mal rauskomme
oder nicht verhungere
obwohl letzteres vermutlich Monate dauern würde
ich giesse regelmässig die Pflanzen
und wasche mir die Haare
manchmal rasiere ich mich auch
obwohl nicht davon auszugehen ist
dass sich ein Beischläfer zu mir verirrt
im Internet könnte ich nach einem Partner suchen
das Problem beim Parshippen ist
dass sich alle 19 Minuten immer nur ein Single verliebt
das ist meines Erachtens nicht zielführend
ich gucke dann doch lieber einen Porno
da muss nach dem Kommen keiner gehen
gestern habe ich «Wer weiss denn so was?» verpasst
dabei kann man da lernen
wie man unnützes Wissen schnell wieder vergisst
meist halte ich mich zwischen
«Tagesschau», «Two and a Half Men» und
«Medical Detectives» nur schwer wach
aber die Hintergrundberieselung gefällt mir
es ist fast so, als wäre man nicht alleine
es erfüllt mich mit Freude und Erleichterung
dass ich morgen nicht ins Büro muss
die Kasse zahlt
wenn auch nicht Ewigkeiten
und nicht zu müssen ist ein bisschen langweilig
aber ungemein befreiend
für die Jobs, für die ich mich bewerbe
passe ich immer knapp nicht ins Profil
obwohl ich die geforderten Skills mehr als erfülle
die soften und erst recht die harten
ich vermute, das liegt am Alter
wenn sie einen in der Anzeige schon mit Du ansprechen
ein Du, das unter 35
und Teil eines urbanen Lebensgefühls ist
ist für dich Hopfen und Malz verloren
diese HR-Schlampen halten sich für den Mittelpunkt der Welt
aber mit Journalismus gegen Wasserstoffbomben von Kim Jong Un ankämpfen
ist eh ein bisschen lächerlich
Hopfen und Malz sind da sehr hilfreich
bei jeder Absage atme ich erleichtert auf
wegen der Political Correctness
nennt man unsereinen heute Arbeitssuchende
dabei suche ich gar nicht
oder nur in den seltensten Fällen
seit ich nicht mehr rumstressen muss
bin ich tiefenentspannt
und habe auch keine Probleme mehr mit dem Stuhlgang
ich scheisse alles zu
ich öffne meine Agenda
und die ist fast leer
ist das etwa das Glück
von dem immer alle reden
das dir aber kaum jemand erklären kann?
letzte Woche haben sie Ovomaltine-Proben verteilt
aber es ist eine Lüge
dass man damit länger kann
ich bin schlapp wie immer
und das erste Mal im Leben
tue ich nichts gegen diesen Zustand
das Recht auf Schlappheit
sollte in der Verfassung verankert sein
ich simuliere ein bisschen das Leben
wie Tänzer kurz vor der Premiere
um ihre Kräfte zu sparen
und sich nicht für eine Hauptprobe ohne Zuschauer zu verausgaben
der Winter ist komplett an mir vorbeigegangen
und schon wird es Zeit
sich auf die Frühjahrsmüdigkeit vorzubereiten
das einzige, worauf ich warte
ist eine neue Staffel von «House of Cards»
in der Kevin Spacey endlich wieder durchgreift