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Brief aus dem Tessin (quattro)

Dieser Herbst war für das Tessin kein gewöhnlicher! Das vor allem, weil bei Mondadori endlich «Tutte le poesie» von Giorgio Orelli erschien, herausgegeben von Pietro De Marchi, einem engen Freund des Dichters aus Ravecchia (einem Ortsteil von Bellinzona). Das Buch besteht aus den vier Gedichtbänden des «grössten Dichters, den das Tessin je hatte» – «L’ora […]

Dieser Herbst war für das Tessin kein gewöhnlicher! Das vor allem, weil bei Mondadori endlich «Tutte le poesie» von Giorgio Orelli erschien, herausgegeben von Pietro De Marchi, einem engen Freund des Dichters aus Ravecchia (einem Ortsteil von Bellinzona). Das Buch besteht aus den vier Gedichtbänden des «grössten Dichters, den das Tessin je hatte» – «L’ora del tempo» (1962), «Sinopie» (1989), «Spiracoli» (1989) und «Il collo dell’anitra» (2001) – und dazu dem «Projekt» einer letzten Gedichtsammlung, die noch vor Orellis Tod 2013 hätte erscheinen sollen: «L’orlo della vita». «Projekt» deswegen, weil das allseits erwartete fünfte Buch im Mondadori-Sammelband sozusagen zweigeteilt ist: auf der einen Seite gibt es bereits veröffentlichte Gedichte, die in «L’orlo della vita» Aufnahme hätten finden sollen (etwa das bezaubernde «Ragni»), auf der anderen Seite noch unveröffentlichte Gedichte «ab Typoskript», die in einer vorläufigen Reihenfolge auf dem Arbeitstisch des Autors gefunden wurden. Genau genommen ist das Ganze noch komplexer, wie De Marchi in seinen Endnoten akribisch darlegt. Abgerundet wird das Werk durch ein dichtes, konzises Vorwort von Pier Vincenzo Mengaldo und eine sehr ergiebige Bibliografie (31 Seiten!) von Pietro Montorfani. Ein meisterhaftes, berührendes, ergreifendes Werk, das alle auf ihrem Nachttisch liegen haben sollten.

Einen Hinweis verdient auch das vor einigen Monaten erschienene schmale Buch «Agli istanti» (Alla Chiara Fonte, 2015) des jungen Tessiner Lyrikers, Biologen und Parasitologen Jonathan Lupi (Jahrgang 1988). Lupi muss in seiner poetischen Sprache zwar noch zu einem Gleichgewicht finden, er verfügt aber über einen grossartigen chirurgischen Blick auf die Wirklichkeit: Wenn man seine Gedichte liest, ist es, als ob man, durch das Okular eines Mikroskops, ein bezauberndes Planetarium beträte.


Andrea Bianchetti
ist Dichter und arbeitet als Kritiker für RSI (Rete Due). Er ist auch Redaktor der Literaturzeitschrift «Cenobio» und lehrt Italienische Literatur an verschiedenen Tessiner Gymnasien. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Sauser.

 

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