Brief aus der Romandie (onze)
Dunkle Wolken hingen über Morges, als am 1. September das Literaturfestival «Le livre sur les quais» begann, und auch die Stimmung zwischen Festivalleitung und Autoren war getrübt: Zum ersten Mal wurde für einen Teil der im Städtchen verstreuten Veranstaltungen Eintritt erhoben, während die Autoren immer noch gratis auftraten. Man müsse doch das Mobiliar bezahlen, war […]
Dunkle Wolken hingen über Morges, als am 1. September das Literaturfestival «Le livre sur les quais» begann, und auch die Stimmung zwischen Festivalleitung und Autoren war getrübt: Zum ersten Mal wurde für einen Teil der im Städtchen verstreuten Veranstaltungen Eintritt erhoben, während die Autoren immer noch gratis auftraten. Man müsse doch das Mobiliar bezahlen, war die Begründung – worauf der Autorenverband AdS in einem offenen Brief vorschlug, das Festival doch lieber «Les chaises sur les quais» zu nennen.
Von den Stühlen der Autoren und Besucher zu literarischen Möbeln: «Sauver les meubles» heisst der erste Roman der 25jährigen Walliserin Céline Zufferey, der im prestigeträchtigen Pariser Verlag Gallimard erscheint. Ein Fotograf gibt seine brotlose Kunst auf und tritt eine Stelle in einer Möbelfabrik an. Fortan fotografiert er Wohnungseinrichtungen mit Models, die eine glückliche Familie simulieren. Eines davon wird seine Freundin, mit der er bald zusammenzieht. Doch er traut dem Liebesglück nicht – zu sehr ähnelt es den gestellten Szenen, die er täglich für den Möbelkatalog fotografiert. Als Ausgleich knipst er heimlich Pornobilder in den Räumlichkeiten der Firma. Sarkastisch und witzig erzählt die Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts diese Geschichte, in der es um Authentizität und um Käuflichkeit, um reale und fiktive Welten geht.
Die virtuelle Welt steht im Zentrum von Aude Seignes drittem Buch «Une toile large comme le monde» (Zoé). Wie der Arm eines gigantischen Kraken liegt ein dickes Kabel am Meeresgrund zwischen Europa und Amerika. Millionen von Mails jagen durch sein Inneres, das den Datenaustausch übers Internet ermöglicht. Was wäre, wenn sich Menschen auf der ganzen Welt zusammenschlössen, um dieses und andere Kabel zu kappen? Wie sähe unser Leben aus, wenn wir plötzlich alle offline wären? Unaufgeregt und gut dokumentiert lässt die Genfer Autorin und Globetrotterin Bildschirme erblinden und öffnet Augen.
Ruth Gantert
ist Redaktionsleiterin des dreisprachigen Jahrbuchs der Schweizer -Literaturen «Viceversa» und der Plattform www.viceversaliteratur.ch. Sie lebt in Zürich.