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Brief aus der-Romandie (treize)

Was tut ein Angestellter, der an seinem Arbeitsplatz einfach vergessen ging? Büromaterial ist für Jahre vorhanden und der Lohn trifft pünktlich ein, aber niemand will etwas von ihm – Janvier, der Protagonist von Julien Bouissoux’ gleichnamigem Roman (L’Olivier), befindet sich in genau dieser Situation. Also giesst er die Pflanze, saugt den Teppich und wartet darauf, […]

Was tut ein Angestellter, der an seinem Arbeitsplatz einfach vergessen ging? Büromaterial ist für Jahre vorhanden und der Lohn trifft pünktlich ein, aber niemand will etwas von ihm – Janvier, der Protagonist von Julien Bouissoux’ gleichnamigem Roman (L’Olivier), befindet sich in genau dieser Situation. Also giesst er die Pflanze, saugt den Teppich und wartet darauf, von der Firma entdeckt zu werden. Ab und zu schreibt er dem chinesischen Arbeiter Wu Wen, dessen Bild er in einer Zeitung fand und der offenbar den Drucker herstellt, der in Janviers Büro steht. Bouissoux gelingt eine wunderbar leichte, melancholische Satire auf unsere Arbeitswelt.

In eine gefühlt hundert Jahre frühere, ländliche Welt taucht Bruno Pellegrino in seinem Buch mit dem schönen Titel «Là-bas, août est un mois d’automne» (Éditions Zoé, 2018). Schlicht und einfühlsam zeichnet er die Lebensgemeinschaft des Dichters Gustave Roud (1897 – 1976) und dessen Schwester Madeleine nach. Die beiden teilten sich das elterliche Haus in Carrouge im Haut Jorat. Während er den Garten pflegt, Pflanzen und Vögel beobachtet, schreibt und auf seinen Spaziergängen junge Bauern mit nackten Oberkörpern photographiert, kümmert sie sich um das leibliche Wohl und die Hausarbeit. Trotz dieser traditionellen Aufteilung ist die erdverbundene Frau, die vom Weltraum träumt und die Mondlandung verfolgt, im Roman mindestens ebenso interessant wie ihr Bruder. Pellegrino stützt sich auf Tagebücher und die zum Teil noch unveröffentlichte Korrespondenz des Dichters. Mit feiner Ironie beschreibt er die Dreharbeiten zu Michel Soutters 1965 entstandenem Film über Roud. Dabei streut er immer wieder diskrete Reflexionen über seine Rolle als Erzähler ein, der das Haus und dessen Bewohner mit der eigenen Vorstellung vergegenwärtigt.

Wer Rouds Werk (neu) entdecken möchte, dem sei «Lied der Einsamkeit» (Limmat, 2017) ans Herz gelegt: der mit Photographien des Dichters schön gestaltete Band zieht einen in der zauberhaften Übersetzung von Gabriela Zehnder in den Bann.


Ruth Gantert
ist Redaktionsleiterin des dreisprachigen Jahrbuchs der Schweizer Literaturen «Viceversa» und der Plattform www.viceversaliteratur.ch. Sie lebt in Zürich.

 

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