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Burroughs im Bergdorf

Als ein visionärer Amerikaner 1971 antrat, die Welt vom Wallis herab zu revolutionieren, war William S. Burroughs mitten im Geschehen, respektive Nichtgeschehen: Eingeladen, an einer Phantom-Uni in Haute-Nendaz zu dozieren, verbrachte er drei geruhsame Wochen im Höhenhotel.

Burroughs im Bergdorf
Haute-Nendaz, photographiert von Claudia Mäder.

Wallis ist, wenn Kaffee und Fendant zum Einheitspreis von drei Franken angeboten werden. Uhrzeit und Vernunft pochen auf ersteren, die Stimmung spräche für letzteren: Die Trübnis, in der sich Haute-Nendaz an diesem Wintermorgen in der Zwischensaison präsentiert, könnte etwas Erheiterung durchaus gebrauchen. Gesäumt von Canadian Pubs,
Plastikpalmen und Überresten einer ästhetisch lamentablen Weihnachtsdekoration zieht die Hauptstrasse eine Schneise durch die Beschaulichkeit des einstigen Bauerndorfs, in dem heute Michael Jackson über dem leeren Eisfeld gegen die Einsamkeit säuselt – vergebens. Dem Gefühl der Fremdheit ist nicht beizukommen.

William S. Burroughs hatte eine kluge Strategie, es zu umgehen: Er blieb im Bett.1 Dass der amerikanische Literat, der seine Frau beim Nachstellen der Apfelschussszene aus Schillers «Wilhelm Tell» tödlich verletzte, eine tragische Verbindung zu den Schweizer Ureinwohnern hatte, ist bekannt. Das komische Abenteuer hingegen, das er 20 Jahre später bei ihnen erlebte, ist noch unerzählt: Drei Wochen lang logierte Burroughs im Herbst 1971 in Haute-Nendaz, las in einem Zimmer des Hotels Mont-Calme Science-Fiction-Romane, übersiedelte gelegentlich für einen Drink in die Edelweiss-Bar oder zur Besorgung von Codein-Pillen in die Apotheke – und tat dies alles als Dozent der lokalen «University of the New World».

In einem entlegenen Winkel der alten Welt hatte der amerikanische Politologe und Experte für psychologische Kriegsführung Alfred de Grazia dieses Institut wenige Monate zuvor eröffnet. Beseelt von der Idee, das Bildungswesen mit einem alternativen Modell – und dadurch die ganze Welt – zu revolutionieren, und eingenommen von der Schönheit des Wallis und der Geschäftstüchtigkeit seiner Bewohner, hatte der Tausendsassa 1969 bei einer Visite entschieden, seinen Campus im Rhonetal und auf den umliegenden Hängen – nämlich in Sion, Haute- und Super-Nendaz – anzusiedeln. Innert kürzester Zeit konkretisierte sich der Plan so weit, dass im Juli 1971 rund 100 amerikanische Studenten Quartier in Haute-Nendaz bezogen.

Auf der Welle des Antiautoritarismus reitend, propagierte die «University» das freie Lernen; weder herkömmliche Diplome noch Stundenpläne sollten die erwarteten 1200 Studenten beengen, die Geister nach Lust und Laune fliessen in den luftigen Höhen, offene «Studios» die drögen Seminare ersetzen und neue Fächer das selbständige Denken beflügeln. Für 1500 Dollar konnten Interessierte jeden Alters drei Monate lang aus einer Kurspalette wählen, die von Katastrophentheorie über Linguistik bis zu Elektrizitätslehre reichte und natürlich auch die Literatur nicht aussen vor liess: de Grazias Werbeprospekt zufolge hätte Allen Ginsberg den Amerikanern in Nendaz «Poetry and Fiction» näherbringen sollen.

Tatsächlich ins Bergdorf geladen hat der Rektor dann aber William S. Burroughs, der mit seinem Bruder, dem Anwalt Edward de Grazia, bekannt war, ja diesem einiges verdankte: Edward hatte Burroughs’ «Naked Lunch» gegen den Vorwurf der Obszönität verteidigt und 1966 vor dem Massachusetts Supreme Court nicht nur den «Freispruch» des Buches erwirkt, sondern mit diesem Fall gleich auch das Ende der in den puritanischen USA lange lebendig gebliebenen Literaturzensur herbeigeführt. Möglich, dass diese Beziehung Burroughs zur Annahme des Lehrauftrags bewogen hat; möglich aber auch, dass biographische Belange ausschlaggebend waren. Seit 1966 in London ansässig, tat sich Burroughs schwer mit der Integration in die dortige Literatenszene, und als zur kreativen Stagnation der Tod von Jack Kerouac und seiner Mutter traten, weitete sich die Krise zur Depression – so dass ihm ein Ausbruch in die Berge in dieser lauen Lebensphase sehr gelegen kam.

«Lovely views, low pay» hatte de Grazia im September per Telegramm verheissen. Als Burroughs im Oktober in Nendaz eintraf, war die schöne Bergwelt wohl da, von der Uni aber wenig mehr als eine lächerliche Kulisse – anstelle eines Campus fand Burroughs «a desolate shack» vor – und von de Grazia fehlte jede Spur. Von Klagen bedroht, hatte sich der gewiefte Utopist in die USA abgesetzt und seine Schule ihrem Schicksal respektive dem lokalen Postbüroführer überlassen, der das Unternehmen als einer der wenigen Nendards mitgefördert hatte. Während einzelne Geschäftsinhaber die ausgabefreudige Studentenklientel begrüssten, war dieselbe in der Presse schon kurz nach Eröffnung des «institut américain» unter heftigen Beschuss geraten: Am 1. August fielen die Universitäre mit einem Fanfarenkonzert zum Nationalfeiertag zwar noch positiv auf, in der Folge aber eckten ihre Klänge zusehends an.

Tamtam-Sessions und Elektrogitarrengeplärr bis zwei Uhr morgens störten die Ambiance des familiären Touristenorts, vermeldete «Le Matin» Ende August. Da die Zeit nicht gereicht hatte, den Campus im ausgelagerten Super-Nendaz (heute: Siviez) fertigzustellen, hausten die Amerikaner, gruppiert in Kommunen, über ganz Haute-Nendaz verstreut in zugemieteten Chalets; Hauseigentümer sahen einen giftigen Wurm in der gesunden Walliser Frucht nisten und fürchteten eine Wertminderung ihres Besitzes, derweil die Tourismusverantwortlichen Öffentlichkeit und Behörden alarmierten, weil die «Hippies»  «le visage traditionnel et helvétique» des Orts entstellten – und mit dem Tourismus die wichtige Einnahmequelle gefährdeten, um dessen Erschliessung sich das Dorf erst seit rund einem Jahrzehnt bemühte.

Just am Tag von Burroughs’ Ankunft – am 14. Oktober – berichtete der «Nouvelliste» in einer grossen Reportage von der «Natternbrut» und erklärte für sicher, dass an der Uni Drogenhandel betrieben werde. Die Polizei schritt zwar mehrfach ein und auch das Erziehungsdepartement wollte sich einschalten, doch prallten dessen Kontrollen an der Strukturlosigkeit der Schule ab: Da der antiautoritäre Unterricht irgendwann (zwischen Morgendämmerung und Mitternacht) und irgendwo (in einem Chalet, einem Café oder auf der grünen Wiese) stattfand oder auch nicht, lief die kantonale Inspektion auf und die «University» weiter – bis sie im März 1972 implodierte.

Kurz, Burroughs lernte Haute-Nendaz in turbulenten Zeiten kennen, fand aber, anders als die Einheimischen, durchaus seine Ruhe – mehrmals erwähnte er eine so nie zuvor gehörte Stille – und schien sich, wie aus Notizen und Briefen (s. nächster Artikel) zu schliessen ist, zunächst recht wohl zu fühlen im Höhenklima. Er kränkelte zwar, nutzte die Gelegenheit aber, Frank Herberts «Dune» zu lesen, besuchte den Drogenguru Timothy Leary in Villars sur Ollon und hielt zwei Vorlesungen, deren Vorbereitung das gemütliche Kurprogramm nicht gross gestört haben dürfte.

Am 24. Oktober referierte der Poet zur Frage, ob Schreiben gelehrt werden könne, und gab den Studenten diesen praktischen Rat: «First learn to type. Then start writing.» Sodann bot er Einblick in eine seiner eigenen Schaffensmethoden, indem er ausgehend von einem Gesprächsfetzen eine kleine Geschichte baute, in die er sich selber als Figur einschrieb. Diese Fiktionalisierungsstrategie wandte er auch im zweiten Vortrag vom 29. Oktober an. Scheinbar losgelöst vom Thema des Schreibens erzählte er von der Überflügelung der «Science Fiction» durch «Science Fact», konkret von realen Verschmelzungen zwischen Menschen und Maschinen und dem Aufkommen von Bio-Signal-Geräten und telepathischen Fähigkeiten. Zum Ende des Vortrags aber verwandelte er mit einer Zeitungsmeldung erneut ein Stück Tagesinformation in eine Story, in die er sich selber einpflanzte – als Bio-Ingenieur, der gegen seinen Willen in einem entlegenen Berglaboratorium festgehalten wird.

Das Bild scheint Burroughs’ veränderte Wahrnehmung von Nendaz zu spiegeln. Nach der anfänglichen Zufriedenheit berichtete er Ende Oktober von zunehmendem körperlichem Unwohlsein, das durch die moderate Höhenlage nicht zu erklären sei, sondern von dem merkwürdigen Ort hervorgerufen werden müsse. Die vermeintlich guten «vibes» hier oben seien alles andere als das – und das Ganze nur mit allmächtiger Hilfe auszuhalten: «Thank God for codeine pills.» Ob er in berauschter Stimmung war, als er am 4. November zurück ins laute London flog, ist eine andere Frage.

 

1 Vgl. dazu sowie für alle in der Folge erwähnten und zitierten Details zu Burroughs’ Aufenthalt in Haute-Nendaz: William S. Burroughs Papers, Henry W. and Albert A. Berg Collection of English and American Literature, The New York Public Library, Series I, Folio 158. – Mit herzlichem Dank an die zuständigen Kuratoren und Nachlassverwalter für die Zugänglichmachung des Bestandes.

Abbildungen (Postcard to Brion Gysin, dated October 18, 1971: Series III, C-37 Part V, Box 86, Fol. 5) und (Swissair ticket: Series I, Folio 158, Box 61, Fol. 16, Item 38): Courtesy of the Henry W. and Albert A. Berg Collection of English and American Literature. The New York Public Library, Astor, Lenox and Tilden Foundations, used by permission of The William S. Burroughs Trust and The Wylie Agency LLC. Copyright © The Estate of William S. Burroughs.

 

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