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Crossover

Wo verlaufen die Grenzen zwischen Literatur und Musik? Gibt es sie überhaupt? Eine Erkundung mit Stimmen von Schweizer Grenzgängern.

Plattentaufe der Garage-Surf-Psychedelic-Kraut-Rock-Band Harvey Rushmore & the Octopus. Die Basler «Kaschemme» ist in tiefblaues Licht getaucht, als René Frauchiger die Bühne betritt und seine Story «Future Man» vorliest – als literarisches Vorprogramm. Das Publikum reagiert mit Stille, gefolgt von «Yeah»-Rufen und Nachfragen nach den Headlinern. Einige raunen: «Wann fängt der an zu singen?» Was sagt Autor Frauchiger zu den Unterschieden zwischen Literatur und Musik? «Bei der Musik können auch kleinere Bands ihre Nischen bespielen und finden ihr Publikum. In der Literatur ist das schwerer – es sei denn, du bist ein grosser Name oder machst Poetry-Slam.» An diesem Abend findet seine Story sehr wohl ihre Zuhörer – nur scheinen die nicht zu wissen, ob sie klatschen, johlen oder stampfen sollen. Die Bereitschaft, sich von der Literatur in fremde Gefilde entführen zu lassen, ist we­niger ausgeprägt als die, mit der Band auf eine vergleichbare Reise zu gehen.

An den guten Stoff rankommen

Ariane von Graffenried, die mit dem Bassisten und Klangkünstler Robert Aeberhard als «Fitzgerald & Rimini» literarisch-musikalische Grenzgänge unternimmt, benennt weitere Unterschiede zwischen Musik und Literatur: «Der Soundcheck ist in der Literaturszene kürzer. Dafür ist die Feier nach einem Konzert ausgelassener und die Beleuchtung besser. Der Hangover und der Blues hinterher können gleich gross sein.» Wenn schon der Blues bei Literatur und Musik nicht unterscheidbar ist – sind es dann die literarischen Formen, mit denen von Graffenried arbeitet? «Ob das, was ich mache, vertonte Gedichte oder gesprochene Lieder, ob die Fitzgerald-&-Rimini-Stücke Kino fürs Ohr oder Minihörspiele sind? Alle diese Bezeichnungen gefallen mir gut und sind für die Analyse hilfreich, aber die Frage nach der Bezeichnung und dem Genre darf mich weder aufhalten noch kümmern.»

Ein grandioses Bild für die Spannungsfelder zwischen Musik und Literatur kommt von Kate «Fuck the Poem»1 Tempest. Im Gedichtband «Hold Your Own», in dem es um das Leben des mythischen Sehers Tiresias geht, heisst es: «I’m a talented thief / I push trolley loads of fancy booze out the doors of Tesco’s / With a smiling nonchalance that makes me famous.»2 Ein nonchalantes Grinsen, ein mit literweise Fusel beladenes, aus dem Discounter geschmuggeltes Wägeli; an der Kassenschlange wird Kleingeld zusammengekratzt und gemurrt: «Was, so einfach kommt man an den guten Stoff ran? Frechheit!»

Ladendiebstahl als Metapher fürs Neben-, Mit-, In-, Aus- und Gegeneinander von Literatur und Musik. Lächelnd schlendert die Literatur aus dem Discounter, literweise Musik schmuggelt sie davon. Die Musik meckert. Lächelnd schlendert die Musik aus dem Discounter, literweise Literatur schmuggelt sie davon. Die Literatur meckert. Die Literatur kann es nicht verkraften, dass in der Musik auch Sätze funktionieren, die jeder Autor noch vor dem ersten Kaffee streicht. Die Musik empört sich, dass die Literatur so viel von ihrem Handwerk zwischen zwei Buchdeckel presst, wo ihnen ein Prestige zukommt, wie es Tonträgern, Bands und Liedermachern zu oft verwehrt bleibt. Bornierte Welt, sei nonchalanter! Bob Dylan, Patti Smith, Benjamin Thomas Folke, Kate Tempest, Kendrick Lamar, Ariane von Graffenried, Noti Wümié, Michael Fehr oder Stephan Eicher und Martin Suter: die interessantere Musik kommt aus dem Grenzgebiet hin zur Literatur.

Steht einer in polierten Schuhen auf der Bühne

Gar nicht erst nach den Grenzen von Literatur und Musik sollte fragen, wer in Pedro Lenz’ «Das kleine Lexikon der Provinzliteratur»3 schmökert. Hier wimmelt es von Musikern – der «ausgewanderte Tangodichter Guillermo Pfäffli», der «Kleindietwiler Jodeltexter Alois Flanker», MC Andy oder die Rockband Flowerman and the Backlanders. Immer wieder ist Lenz auch mit Patent-Ochsner-Tastenmann Christian Brantschen oder mit Pianist Patrik Neuhaus unterwegs. Wäre er lieber Musiker geworden? «Vielleicht wäre ich tatsächlich lieber Mitglied einer Rockband oder Jazzmusiker, aber mein Musikgehör hätte dazu nie ausgereicht.» Was sind seiner Meinung nach die Unterschiede zwischen Literaten und Musikern? «Musiker üben mehr, haben ein besseres Gefühl für die Bühnensituation. Sie ziehen sich feiner an, achten auf sauber polierte Schuhe, bereiten den Ablauf genau vor und überlegen sich, wer wann das Publikum begrüsst, welche Zugaben sie spielen und wie sie den Auftritt strukturieren. Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind oft so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht daran denken, dass ihnen gegenüber ein Publikum sitzt, das unterhalten werden will. Sie bilden sich ein, sie allein seien schon wichtig und interessant genug, um den Eintrittspreis zu rechtfertigen, was leider oft nicht zutrifft. Abseits der Bühne sind sich Musiker und Schriftsteller ähnlich im Bestreben, etwas von dem, was sie umtreibt, künstlerisch mitzuteilen.»

Literatur und Musik ticken ähnlich, wenn es um die Mitteilung des Dringlichen geht – die unmöglich ist ohne den einen oder anderen «Ladendiebstahl». Literatur liebt die Rhythmen und Formen der Musik, lebt von Kadenzen; Musik lebt von den Bildern der Literatur. Beide stehen, aus dem Gedächtnis am Lagerfeuer vorgetragen, am Anfang von allem. Reime, Rhythmen, Assonanzen: Helfer beim Memorieren des Textes.

Ariane von Graffenried trägt ihre Texte zwar meist auswendig vor, hat sie aber trotzdem bei den Auftritten dabei: «Mit dem Text auf der Bühne stehen Instrumente, Kabel, Mikrofone, Gerätschaften, Verstärker, Körper, Kehlköpfe, Zungen und so weiter. Wie im Theater sind alle Mittel gleichberechtigt. Der Text ist anwesend, nicht in Person der Souffleuse hinter der Bühne, sondern als lose Seiten, als Partitur oder in Buchform. Trotzdem rezitiere ich meist auswendig. So kann ich mich besser auf die Musik konzentrieren. Es ist schade, wenn die Augen zu sehr an den Buchstaben kleben, weil auch sie erzählen.»

Riskanter Crossover

Auch ein Instrument unter vielen ist die Stimme Michael Fehrs, den man sich gut vorstellen kann, wie er mit einem Wägeli voll Whisky lächelnd aus dem Discounter schlendert. Selten spielen die Unterschiede zwischen Poesie, Prosa, Literatur und Musik eine so untergeordnete Rolle, wie wenn er loslegt: «Eines Nachts aber dann geht im Traum der Tochter / die Mutter um / rauscht weiter hinaus / bis an den toten Punkt / an dem das Licht der Sonne endet.» Zu diesen Worten schreitet er die Bühne ab, der Körper sein eigenes Metronom. Ist das noch Literatur oder ist es schon Musik?

Natürlich birgt der Crossover Risiken. Nachzuhören auf Michael Fehrs und Manuel Trollers neuer EP «Im Schwarm». Wer sich mit so viel Charisma zwischen allen Schubladen bewegt, darf sich nicht wundern über Rückmeldungen à la: «Musikalisch ist das ja sehr gut, aber die Texte sind übertrieben dargeboten!» (nachzulesen auf Fehrs Socials). Aber: kann man Literatur und Musik überhaupt trennen? «Die Stimme ist eines unter den Instrumenten. Die sogenannten Instrumente würden nicht so spielen, wie sie spielen, wenn es diese Stimme nicht gäbe», sagt Fehr, «ich bin auf einer Suche, und zur Suche gehört es, dass mir Fehler unterlaufen oder dass ich etwas übersteuere, über­frachte, überborde, übersteigere, dass ich etwas nicht richtig hinbekomme. Das heisst für mich nicht, dass ich auf dem falschen Weg bin. Dafür, dass ich ein intensiver Mensch bin und mich aufrege und zeitweise eine grosse Unruhe verspüre, kann ich nichts, das muss ich einfach akzeptieren…»

Literatur und Musik: untrennbar

Gerecht wird man literarischer Musik und musikalischer Literatur erst in der Überblendung der kritischen Sichtweisen. Solange man literarische Musik und musikalische Literatur vom «jeweils anderen Standpunkt» aus betrachtet, wird man dem Kunstwerk nicht gerecht. «Die Musik ist okay, aber der Text ist mir zu übertrieben» ist keinen Deut besser, als wenn Mundartpolizisten Mundartlesungen kritisieren. Da kann man auch Sister Rosetta Tharpe, Nick Cave, R. L. Burnside, Odetta, Tom Waits oder Endo Anaconda zu viel Emphase vorwerfen. Oder Kuno, beim «Bandini» zu textlastig drauf gewesen zu sein.

Am Ende gilt, was Kate Tempest in «Party Time» schreibt, als Tiresias an einer Party beim Rappen von einem Mordsflow davongetragen wird: «He’s summoning their destinies, / sentencing their spirits; / poor things, the joke’s on them – / they think he’s rapping lyrics.» Tiresias beschwört die Schicksale des Publikums herauf, doch das Publikum denkt nur: «Das ist jetzt zwar ein bisschen drastisch für eine Lesung, aber der rappt ja auch nur seine Lyrik!» Tatsächlich wird die Conditio humana verhandelt – die Untrennbarkeit von Literatur und Musik.

  1. Kate Tempest: Fuck the Poem. In: Hold Your Own. London: Picador, 2014.

  2. Kate Tempest: Sixteen. Ebenda.

  3. Pedro Lenz: Das kleine Lexikon der Provinzliteratur. Zürich: Bilgerverlag, 2012.

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Stefan Bachmann, fotografiert von Maurice Haas / Diogenes Verlag.
Charlotte Brontë und das Nichts

Sein Debüt wurde in den USA ein Riesenerfolg, da war er gerade 20 Jahre alt. Weniger bekannt ist: Fantasy-Autor Stefan Bachmann ist auch ausgebildeter Musiker. Aber wie kommt jemand überhaupt auf die Idee, zu schreiben oder Musik zu machen?

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