Curatio bernensis
Robert Walser verbrachte in der «Waldau» trotz «Krankheit» eine recht angenehme Zeit. Friedrich Glauser machte sich darin an der anderen bernischen Anstalt zu schaffen. Und Friedrich Dürrenmatt? Der war nicht da, wies aber Auswege aus Irrwegen.
Gut 13 Kilometer liegen zwischen Ostermundigen und Münsingen, nur gut 13 Kilometer trennen die beiden stadtnahen psychiatrischen Anstalten des zweitgrössten Kantons. In Bern, wo sich sommers alles Volk unter dem Regierungsgebäude sonnt und ins nasse Blau steigt, das selbst bei hohen Temperaturen, von Schmelzwasser gespeist, kühl die Kiesel umdreht und seinen Arm um die Stadt legt, dort ist kein Weg sehr weit. Doch jetzt ist noch fast Winter, die grösste Bahnhofsuhr der Welt passiert und die psychiatrische Universitätsklinik Waldau vorerst Endstation an diesem Morgen.
Letzte Station machte hier auch der wohl berühmteste Insasse, der vor seinem Eintritt in die «Waldau» bereits – oder noch – Schriftsteller war. Robert Walser, der in Bern gute 15mal den Wohnsitz gewechselt hat, logierte nach Halt in der Altstadt, der Länggasse und der Elfenau zuvorletzt bei Ida und Margarete Häberlin an der Luisenstrasse. Die beiden Schwestern schätzten ihn als ruhigen Mieter, bis er ihnen zunächst Heiratsanträge machte, nur um gleich darauf darum zu bitten, ihn doch zu erstechen. Die eigene Schwester reiste nach Bern und zog einen Psychiater bei, der der Meinung war, Walser habe «die geschlossene Anstalt dringend und so rasch als möglich nötig». So zog Walser ein letztes Mal in Bern um – nach Ostermundigen. Er trat im Januar 1929 in die «Waldau» ein. Die Diagnose: Schizophrenie. Bereits nach wenigen Tagen erholte sich der Autor von dem Verfolgungswahn, erfüllte sein Pensum an Putzen und Gärtnern, spielte Schach und Billard, spazierte und fing auch bald wieder an, Gedichte zu schreiben. Erst 1933, nach der Überweisung in die Heilanstalt Herisau, versiegte seine literarische Produktion.1
Die Heilanstalt Waldau durchlief viele Stationen, ehe sie zur Universitätsklinik wurde. 1499 verlegt sich das städtische Siechenhaus für Leprakranke aus der Stadt hinaus auf das heutige Gelände der «Waldau», wird Blatternhaus für Syphiliskranke, danach Tollhaus für die unheilbaren Fälle des Inselspitals und 1855 eigenständige Irren-, Heil- und Pflegeanstalt.2 500 Jahre Pflege kann sich die Institution an die Fahne heften, sie selbst krankt aber bereits kurz nach der Gründung – an heilloser Überfüllung. Selbst nach der Eröffnung der beiden anderen kantonalen Heilanstalten in Münsingen (1895) und Bellelay (1899) sucht die «Waldau» nach Entlastung und überweist Robert Walser deshalb 1933 an seinen Heimatkanton Appenzell Ausserrhoden, wo er in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau einen 23 Jahre währenden Lebensabend verbringen sollte.
Seinen Zustand beschreibt Walser in einem Brief an eine Freundin wie folgt: «Meine Krankheit ist eine Kopfkrankheit, die schwer zu definieren ist. Sie soll unheilbar sein, aber sie hindert mich nicht, zu denken, an was ich Lust habe, oder zu rechnen oder zu schreiben oder höflich mit den Leuten zu sein oder die Dinge, wie z.B. ein gutes Essen u.s.w. zu konstatieren.»3 Vom Leben in der Anstalt beziehungsweise dieser Krankheit zum Tode in ihrer schrecklichen Normalität berichtet Walser nur in Briefen. Friedrich Glauser, den er in der «Waldau» knapp verpasst, sieht sie dagegen mit Staunen in seinem eigenen Werk sich entwickeln: «Mir geht es komisch mit dem Buch […]. Es sollte ein anspruchs-loses, ein bisschen boshaftes Buch über die heilige Psychiatrie werden, ein Kriminalroman, wie es deren viele gibt, und plötzlich biegt sich mir das Ganze um, es wird poetisch, sehr zu meinem Verdruss. […] Es wird kein Kriminalroman, es wird eine andere Angelegenheit.»4 Glauser tritt 1934 in die «Waldau» ein – nachdem er zuvor ähnlich viele Einrichtungen betreten und wieder geflüchtet hat wie Walser Wohnungen.
In Bern ist die «Waldau» Glausers dritte Anstalt, nach einer Passage in der städtischen Irrenstation Holligen und mehreren Aufenthalten in der Klinik von Münsingen, deren Anlage, Personal und Insassen ihm als Folie für seinen Roman «Matto regiert» dienen. «Warum, ich bitte Sie, warum soll man nicht einmal versuchen, eine Art Spiegelbild der Menschheit zu geben, in dem man eine geschlossene Anstalt zeigt […]. Es wird ein Kriminalroman werden mit allen Regeln des (hoffentlich) guten Kriminalromans, aber ich sehe keine andere Möglichkeit, dass die Leute Sachen schlucken, die sie sonst nicht schlucken würden»5, schreibt er Martha Ringier aus der «Waldau», wo er dem Münsinger Direktor den Tod andichtet und dem Assistenzarzt Max Müller, seinem Psychoanalytiker, in der Fiktion die Führung der Anstalt überträgt. 1934 hätte er aus ebendieser entlassen werden sollen, um mit Berthe Bendel, einer Münsinger Pflegerin, nach Frankreich auszuwandern. Im letzten Moment wurde dem Schriftsteller, Morphinisten, Geisteskranken und unter Hebephrenie – Jugendirresein – leidenden Glauser jedoch die Entlassung verwehrt und die Verlegung in die «Waldau» veranlasst.
In beiden Anstalten wurden die Insassen mit einem Programm behandelt, das in der «Waldau» 1920 unter dem Begriff «Arbeitstherapie» eingeführt worden war: Holzhacken, Korbflechten, Karrenziehen.6 Heute manifestiert sich die Ermahnung zu körperlicher Ertüchtigung an beiden Orten in Form einer Minigolfanlage. In Münsingen laden zudem eine Dampfbahn und die Mehrzweckhalle «Casino», in der Glauser Berthe das erste Mal den Hof machte, zum geselligen Beisammensein sowie das Weltenlabyrinth auf der weitläufigen Anlage zur Selbstfindung. «Ein Labyrinth unterscheidet sich von einem Irrgarten dadurch, dass es nur Wege und keine Sackgassen gibt. Auf dem Weg in die Mitte sind Sie auf dem Weg zu sich selber», steht da auf der Webseite.7 Ob Robert Walser dem zugestimmt hätte? Friedrich Dürrenmatt, selbst Labyrinther und ebenfalls zeitweiliger Bewohner Berns, verfasst 1961 sein Irrenstück Die Physiker und lässt es im Privatsanatorium «Les cerisiers»8 spielen. Zur Premiere stellt er dem Programm 21 Punkte bei und vermerkt unter Punkt 21: «Die Dramatik kann den Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr standzuhalten oder sie gar zu bewältigen.»9 Deshalb kürze ich den Weg zu mir selbst ab, steige über die virtuellen Wände des Labyrinths in Richtung Cafeteria, verordne mir selber Tee und später im Jahr vielleicht auch mal den 14-Loch-Golfparcours im Kleinformat.
1 Vgl. Werner Morlang: «Ich begnüge mich, innerhalb der Grenzen unserer Stadt zu nomadisieren…» Robert Walser in Bern. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt, 1995, S. 22.
2 Vgl. Martina Wernli: Schreiben am Rand. Die «Bernische kantonale Irrenanstalt Waldau» und ihre Narrative (1895–1936). Bielefeld: transcript, 2014, S. 77 ff.
3 Robert Walser: Brief an Therese Breitbach, 23. Dezember 1929. In: Morlang, 1995, S. 59.
4 Martha Ringier: «Alles Richten und Verdammen löste einen Aufruhr in ihm aus.» In: Heiner Spiess und Peter Erismann (Hrsg.): Friedrich Glauser. Erinnerungen von Emmy Ball-Hennings, J. R. von Salis et al., 2. Ausgabe. Zürich: Limmat Verlag, 2008, S. 40–63, hier S. 47.
5 Ebd., S. 47 f.
6 Vgl. Wernli, S. 196 ff.
7 Psychiatriezentrum Münsingen: Das Weltenlabyrinth – auf dem Weg zu seiner Mitte. Webseite: http://www.pzm.gef.be.ch/pzm_gef/de/index/ freizeit_kultur/freizeit_kultur/freizeitangebot2.html.
8 Dessen Vorlage liegt nicht in Bern, sondern in Neuchâtel, ohne Minigolfanlage.
9 Friedrich Dürrenmatt: Anhang. 21 Punkte zu den «Physikern». In: Ders.: Die Physiker. Werkausgabe, Bd. 7, Zürich: Diogenes, 1998, S. 91–93.