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Der Fuchs hinterm Hügel

Über Zeitfragen und die Sache mit der harten Realität.

«Wie lange brauchen Sie denn, um einen Roman zu übersetzen?» Diese Frage bringt mich immer wieder ins Schlingern, und wenn sie dann fällt – im Gespräch nach einer Lesung oder auf einer Party am Häppchenbuffet –, dann überschlagen sich die Berechnungen, Schätzungen, Pi-mal-Daumen-Bemühungen in meinem Kopf. Zähle ich schon die erste Lektüre, die zweite Lektüre dazu? Nur die Phase bis zur fertigen Roh­fassung? Oder sämtliche Überarbeitungsschritte, den ersten, zweiten, dritten Lektoratsdurchgang, das Korrekturfahnenlesen? Und wie berechne ich all das Grübeln auf dem Weg ins Kino, beim Wäscheaufhängen oder Haareföhnen? Wie messe ich, was nicht zu fassen ist?

In Wirklichkeit  könnte meine Antwort immer dieselbe sein, und zwar ganz einfach: «Zu lang.» Erst neulich wieder hörte ich von einer Übersetzerin, die auf deutlich mehr Erfahrung zurückblicken kann als ich, sie schaffe manchmal zwanzig Seiten am Tag. Ein anderer Kollege antwortete mir auf die Frage, wie viel Zeit ich für eine Probeübersetzung anberaumen könne, er kalkuliere, wenn er keine acht Stunden täglich Zeit dafür hätte, drei Tage: einen zum Reinlesen, einen zum Übersetzen, einen zum Überarbeiten. In solchen Momenten schlottern mir die Knie, wird mir heiss und kalt, frage ich mich, wieso ich so astronomisch weit von Zeitplänen wie diesen entfernt bin. Meine Kolleginnen und Kollegen machen mir Angst.

Ich brauche Zeit mit einem Text. Ich muss mich tief in ihn hineinbegeben, wie in einen dichten Tannenwald, ich muss ihm beim Vorbeifliessen zusehen, wie dem kleinen Bach in dem Park vor meiner Tür. Ich muss ihm zuhören, wie er in die Stille hallt, ihm nachfühlen, nachschmecken, ihn abtasten wie einen Fels, an dem ich Halt finden will. Was ist meine Übersetzung? Eine zarte Pflanze, die behutsam heranwächst? Ein Schweizer Bergkäse, der lange reift? Nein, es ist doch so: Der Text ist mein Gegenüber. Und das Original zunächst ein Fremder, aus dem ein Vertrauter werden muss, und das braucht eben – Zeit. Als ich ein Kind war, hatte ich «Der kleine Prinz» als Computerspiel (keine Sorge, auch als Buch!), und in diesem Spiel war eine der Aufgaben, den Fuchs zu zähmen. Wie zähmte man den Fuchs? Indem man ganz einfach Zeit mit ihm verbrachte, also immer wieder zu einem kleinen Hügel navigierte, hinter dem der Fuchs sich versteckte. Und eines Tages dann – kam er hervor.

Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Ich brauche Zeit, um scheinbar nutzlos auf den Bildschirm zu starren, brauche auch Zeit, um vom Computer aufzustehen, damit beim Wäscheaufhängen die Erleuchtung kommt. Ich brauche Zeit zum Ausprobieren. Um das Objekt des Satzes hierhin und dorthin zu schieben, um einen Relativsatz aufzulösen, um doch noch drei andere Substantive zu testen, um aus zwei Adjektiven ein treffenderes Verb zu machen. Ich brauche Zeit zum Recherchieren. Als ich zum Beispiel Nathalie Chaix’ Roman «Liegender Akt in Blau» übersetzt habe, in dem es um die letzten zwei Lebensjahre des Malers Nicolas de Staël geht, habe ich zur Vorbereitung viel gelesen: seine gesammelten Briefe, eine Biographie, Texte seiner Weggefährten, frühere Romane derselben Autorin. Ich habe mir antiquarisch alte Ausstellungskataloge besorgt, Bildbände gewälzt, mir in Paris eines von de Staëls Gemälden angesehen, mich mit der Geschichte des Filzstifts beschäftigt. Als ich «Atlas Hotel» von Bruno Pellegrino übersetzt habe, dessen Figuren immerzu auf Reisen sind, habe ich viel Zeit auf YouTube verbracht: mit Videos von Zugfahrten in der Transsibirischen Eisenbahn, von Spaziergängen durch Tokio; mit Dokus über madagassische Strassenkinder, dem Musikvideo zu «Nathalie» von Gilbert Bécaud. Mag sein, dass ich diese Bücher auch ohne all die Recherche hätte übersetzen können. Aber wäre die Übersetzung dieselbe gewesen?

Ich mache mir keine Illusionen: Eine Übersetzung wird nicht zwangsläufig umso besser, je mehr Zeit man zur Verfügung hat. Man kann einen Text im Gegenteil auch so lange bearbeiten, bis er ganz schal wird. Deswegen ist es auch ein Glück, dass es Fristen gibt: Abgabetermine können lähmen, ja, aber sie können auch beflügeln. Sie sind Fluchtpunkte und Pfeiler, die mir helfen, meine Arbeit abzustecken und die Kluft zwischen Aufwand und Honorar nicht zum Abgrund werden zu lassen, in dem ich mich verliere. Denn Zeit ist Geld, das gilt beim Übersetzen wie in vermutlich allen Branchen; und es ist schliesslich kein schönes Gefühl, wenn man der Künstlersozialkasse1 melden muss, dass man das erwartete Jahreseinkommen 2018 aller Voraussicht nach doch nicht erreichen wird. Natürlich bleibt da immer die Hoffnung, dass mit den Jahren, mit den Büchern all die ge­wonnene Erfahrung fruchtbar wird und sich das ersehnte Gegenüber immer schneller offenbart, mir die Lösungen zufliegen und in einem fort die Geistesblitze in meinen Schreibtisch einschlagen.

Und so balanciere ich beim Übersetzen auf einem Seil, das straff gespannt ist zwischen den Idealen, mit denen ich antrete, und der Realität, auf die ich treffe. In der Regel hat man ein paar Monate für einen Roman, je nach Länge, je nach Komplexität, und ein paar Wochen für ein Theaterstück. Das Funktionieren eines Verlags bringt eigene Zwänge mit sich: Termine müssen eingehalten werden, mit dem Layout, mit der Druckerei; die Presseabteilung braucht ganz plötzlich die ersten fünfzig Seiten, um mit der Illustratorin die Umschlaggestaltung zu besprechen und um den Text für die Verlagsvorschau zu schreiben; Übersetzerinnen etwa von amerikanischen Bestsellern arbeiten zusätzlich im Wettlauf gegen den Erscheinungstermin des Originals. Und schliesslich schieben sich noch meine anderen Projekte davor, dazwischen, sie drängeln von hinten – aber ich brauche sie, und zwar nicht nur, um meine Miete zu bezahlen, sondern auch, weil ich es schätze, wenn sich meine verschiedenen Tätigkeiten gegenseitig befruchten, einander ungeahnte Türen öffnen.

So wird der Zeitdruck zu einem wiederkehrenden Begleiter. Das liegt manchmal an der Fülle der Aufträge, manchmal an der Dringlichkeit der Anfragen, manchmal an unvermuteten Fallstricken im Text. Meine Mutter sagt: «Du fängst immer auf den letzten Drücker an.» Und fatalerweise stimmt das auch noch – zumindest was die Arbeit in schwarz auf weiss betrifft. Aber eben: ich brauche diesen Anlauf, ich brauche diese Zeit vorher, bis es in mir brodelt, sich aufbaut, bis es keine andere Option mehr gibt als: raus damit.

Was tut man also, «wenn es schnell gehen muss»? Ich habe einen langmütigen Freund aus Marseille, der auch Übersetzer ist und mir in pixeligen Skype-Sessions über die mir unverständlichen Stellen eines Originals hinweghilft. Und ich habe noch mehr langmütige Freunde, die es mir nicht übelnehmen, wenn ich mich für ein paar Wochen an meinem Schreibtisch einigele. Aber so viele Nachtschichten ich auch einlege, so viele Wochenenden ich auch streiche – so ganz habe ich es nicht in der Hand. Wann der Fuchs sich zeigt.

Die Ich-Erzählerin in Nathalie Chaix’ Roman ist Nicolas de Staëls letzte Muse. In einem Kapitel sitzt sie im Bus einer alten Frau gegenüber und sinniert über das Altwerden. Sie beobachtet diese alte Dame im dottergelben Rock: «Ein Knie über dem anderen – lässt einen Zipfel hautfarbener Spitze erahnen. Une combinaison. Wie meine Mutter sie trägt.» Une combinaison? Wie: une combinaison de ski? Wie nannte man denn das Kleidungsstück, das Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts unter ihren Röcken trugen und das in den fünfziger Jahren schon altmodisch erscheint? Ich habe in dieser Angelegenheit meine Grossmutter befragt. Ich bin zu Kaffee und Kuchen gekommen – bei meinen Grosseltern immer pünktlich um halb vier – und noch auf einen Plausch geblieben. Denn manchmal muss sogar so viel Zeit einfach sein.


1 Anm. d. Red.: Selbständige in künstlerischen Berufen können sich in Deutschland zu vergünstigten Bedingungen über eine spezielle Künstlersozialversicherung – die Künstlersozialkasse – für den Krankheits- und Pflegefall sowie für das Alter absichern. (sb)

 


Lydia Dimitrow
übersetzt mit besonderem Interesse die Literatur der Romandie ins Deutsche (u.a. Bruno Pellegrino, Isabelle Flükiger, Valérie Poirier). Die Berlinerin ist zudem Autorin und Dramaturgin der Theaterkompanie mikro-kit.

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