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Der literarische Abenteurer Blaise Cendrars

 

Ich lese kaum noch Schweizer Literatur. Aus einem einfachen Grund: Sie langweilt mich. Sie ist mir häufig zu langsam, zu beschaulich, zu betulich. Flanierliteratur eben. Der typische Schweizer Schriftsteller spaziert durch eine Strasse, in Männedorf, Olten, Berlin oder Paris, eine Katze springt von ­einem Fenstersims, ihr Fell ist kupferfarben. Solche und ähnliche «Ereignisse» werden dann fünf Seiten lang ausgewalzt, was dem Autor Gelegenheit gibt zu zeigen, wie viele verschiedene Wörter er kennt, um das Katzenfell zu beschreiben. Vielleicht steuert er auch noch ein paar analoge Bemerkungen zu ­seiner eigenen Behaarung und generellen Befindlichkeit bei. «Interessante Beobachtungen», nennt man das dann im Schweizer Feuilleton, «differenziert ­beschrieben». Das grosse Gähnen. Sollte Literatur nicht existentiell sein, nackt? Drängend? Es muss doch etwas auf dem Spiel stehen, und zwar nicht nur das sprachliche Treffen des Katzenfellfarbtons.

Gesetzt den Fall, es steht literarisch etwas auf dem Spiel, frage ich mich gemeinhin, wo der Autor seinen Stoff herhat. Ich werde neugierig auf seine Herkunft, seine Kindheit, seine Traumata. Ich möchte in Erfahrung bringen, wo und wie er gearbeitet hat, interessiere mich für seine finanzielle Situation, sein Liebesleben, seine Obsessionen. Was ihm heilig war, was er hasste. Von einem Schriftsteller, der als unbeteiligter, unverbindlicher Frührentner durchs Leben geht, will ich das aber nicht wissen.

Einer war anders. Intensiv, rückhaltlos. Ein Abenteurer, der sowohl im Leben wie im Schreiben das Risiko nicht scheute. Kein Zuschauer, sondern einer, der sich in die Welt stürzte, als wäre sie ein ­erfrischender See: Blaise Cendrars.

Ich erinnere mich noch genau. Als Jugendlicher fuhr ich mit dem Nachtzug nach Florenz und las Cendrars’ Gedichte Feuilles de Route (Frachtbriefe), die er 1924 während einer Brasilienreise verfasste. In einem ging es darum, dass er gerne mit wenig ­Gepäck, bestehend vor allem aus weissen Blättern, unterwegs war. Ich rauchte indische Bidis im Flur, während wir durch die Dunkelheit ratterten. ­Cendrars sagte derweil, dass er lieber Sonnenauf- als -untergänge hatte. In einem weiteren Gedicht beschrieb er einen Landgang mit Franzosen in ­Dakar während der Überfahrt nach Südamerika:

Nein

Nie wieder

Ich setze nie wieder den Fuss in ein
Tingeltangel der Kolonisten

Ich möchte der arme Neger sein,
ich möchte der arme Neger sein

Der am Eingang steht

Dann wäre die schöne Negerin meine Schwester

 

Ich hatte keine Erfahrung mit Kolonisten und ­Afrikanern, aber ich verstand Cendrars’ Wunsch. Ein anderes Gedicht begann so:

Wir wollen nicht traurig sein

Das ist allzu leicht…

Es ist nicht schwierig

Jedermann ist traurig

 

Das fand ich überraschend subversiv, weil – ­gerade in der Schweizer Literatur – Melancholie als tiefsinnig und Fröhlichkeit als oberflächlich gilt. Bis heute. Schwermut ist aber unter Literaten oft einfach Ausdruck von Selbstbezogenheit, oder noch ungeschminkter: von Feigheit und Bequemlichkeit – nichts am eigenen, freudlosen Leben zu ändern. Cendrars propagierte eine andere Einstellung: Mut und Leichtsinn statt Schwermut!

Das ist auch das Programm der Erzählung ­Abhauen, die ich als nächstes las, in den Achtzigern, immer noch von spätpubertärem Fernweh geplagt (das bis heute andauert). Die Herkunft des Texts ist, passend zum Inhalt (Wohin ist wichtiger als Woher!), nicht bekannt: Es ist weder klar, wann, noch ist klar, wo er geschrieben wurde. Cendrars’ Ich-Erzähler lebt in Paris, wo er allnächtlich in den Bars seine kleine Erbschaft verprasst und von seiner grossartigen ­Zukunft träumt. Eines Morgens, verkatert, beschliesst er, die Stadt mit all den Säufern, Phantasten, Nichtsnutzen und Nutten zu verlassen. «Mich in den überfluteten Feldern verlieren… eine unbändige Lust… den Kopf zu verlieren, mich umzusehen, zu gehen.» Am Bahnhof kauft er mit den verbliebenen hundert Francs ein Billet, einfach, dritter Klasse, nach St. Petersburg – es ist die Stadt, die ihm zufällig als erste ins Auge gestochen ist auf der Abfahrtstabelle.

Bei Cendrars selbst war es umgekehrt. 1887 in La Chaux-de-Fonds geboren, ging er nach dem Besuch einer Handelsschule nach St. Petersburg, um für einen Juwelier zu arbeiten. Dann studierte er einige Se­mester in Bern und zog 1910 nach Paris, wo er begann, Gedichte zu schreiben, und Modigliani, Chagall, Apollinaire und später Henry Miller kennenlernte. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er sich freiwillig zur Fremdenlegion; bei einem Gefecht in der Champagne verlor er 1915 die rechte Hand.

Während der eingangs schon erwähnten Brasi-lienreise in den Zwanzigern beendete Cendrars seinen ersten Roman, über den Schweizer Auswanderer und Pionier Johann August Suter, der in Kalifornien zu einem der reichsten Männer der Welt wurde: Gold. Abgesehen vom atemberaubenden, historisch verbürgten Stoff wirkt das Buch stilistisch ungemein modern, bis heute. Das hat mit der stellenweise ­extrem verknappten Erzählweise, den raschen Szenen­wechseln, dem harten Changieren von Totale und Zoom zu tun – der filmischen Technik, wie sie auch John Dos Passos praktizierte, dessen Roman Manhattan Transfer wie Gold 1925 erschien. Inzwischen ist uns dieser Zugang aus Thrillern und Krimis vertraut, damals war der Perspektivenmix ein Novum. Tatsächlich beschäftigte sich Cendrars zu jener Zeit intensiv mit den Möglichkeiten des Films und versuchte später, seinen Roman als Treatment in Hollywood unterzubringen. Es fällt auf: Cendrars ist ­immer auf der Seite der Moderne, des Neuen, er blickt nicht wehleidig zurück; während sonst in der hiesigen Literatur stets ein eher zivilisationskritischer, nostalgischer, zweifelnder Ton vorherrscht.

Johann August Suter also. Bis heute hält sich der hartnäckige Glaube, der legendäre Auswanderer sei dank des Goldes auf seinen amerikanischen Grundstücken reich geworden. Aber die Wahrheit ist so ­absurd, so widersinnig, wie es nur das Leben selbst sein kann: Suter hatte es tatsächlich lange vor dem Goldfund schon zu sagenhaftem Reichtum gebracht, ganz unspektakulär, durch Landwirtschaft. Und es war der Goldrausch, der ihn ruinierte, nicht andersherum. Aber beginnen wir hier ganz von vorn: Suter, 1803 ­geboren, später Textilhändler, hatte sich im bernischen Burgdorf hochverschuldet und wurde polizeilich gesucht. Also liess er seine Frau und seine vier Kinder im Stich und haute 1934 ab – nach New York. Mit verschiedenen Jobs hielt er sich dort über Wasser, schlug sich dann auf einer jahrelangen, strapaziösen Reise nach Westen durch. 1840 erreichte er Kalifor­nien, das damals noch zu Mexiko gehörte. Durch einen Vertrag mit der Regierung konnte er sechshundert Quadratkilometer Land erwerben. Er heuerte Arbeiter an, vertrieb die ansässigen Indianer, wurde zum ­General der mexikanischen Armee, baute am Sacramento River eine Festung («Sutter’s Fort»), woraus später die Stadt Sacramento entstand. Kurz: er verwaltete seinen «New Helvetia» genannten, florierenden Grossgrundbesitz wie ein kleiner König.

Bis zu dem Tag im Jahr 1848, als auf seinem Land die ersten Goldklumpen gefunden wurden. Noch ­bevor Suter selbst irgendetwas unternehmen konnte, wurden seine Felder und Äcker von Tausenden Glückssuchern überrannt und zerstört. Kalifornien war erst vor kurzem an die USA übergegangen, die Ordnungskräfte und die Justiz funktionierten nur mangelhaft. Innert kurzer Zeit wurde aus dem Milliardär ein Bettler, der froh sein musste, dass er von einem Richter eine kleine Pension zugesprochen ­bekam. Bis zu seinem Tod im Jahr 1880 kämpfte er vor den Gerichten um eine Wiedergutmachung für sein unglaubliches Schicksal. Vergeblich. Wäre er erfolgreich gewesen: das ganze gefundene Gold und das ganze Gebiet von San Francisco bis Sacramento würde heute seinen Erben gehören.

Cendrars beginnt seine Version der Geschichte mit einer gemächlichen Schilderung des Dorfes Rünen­berg. Suter taucht dort 1834 auf. Er braucht einen Pass, den er aber nicht kriegt. Weil er bereits steckbrieflich gesucht wird. Der Erzählstil? Noch ganz ländliches 19. Jahrhundert. Es geht weiter mit der Flucht durch Frankreich, bald aufs Schiff und über den Atlantik. Mit der Ankunft in der Neuen Welt ändert sich der Tonfall schlagartig. Cendrars wechselt unver­mittelt ins Präsens, schaltet beim Tempo zwei Gänge höher. Auf einmal sind wir mitten in einer Livereportage aus dem Hafen von New York. Die Schiffbrüchigen, die Gestrandeten, die Fahnenflüchtigen. Deutsche Sozialisten und russische Mystiker. Idealisten und Gauner. Desperados. Und Suter: «Kaum hat das Schiff angehalten, springt er auf den Quai, stösst die Soldaten der Miliz auf die Seite und umfängt mit ­­einem Blick den unendlichen Meereshorizont, entkorkt, leert in einem Zug eine Flasche Rotwein und wirft das leere Gefäss unter die Negermannschaft ­eines Bermuda-Dampfers. Dann bricht er in Lachen aus und läuft in die unbekannte, grosse Stadt hinein, als hätte er’s eilig und erwartete ihn jemand.»

Schon geht’s im Eiltempo quer durch Amerika, die Ankunft am Sacramento River, die Widerstände, die Kämpfe, der sagenhafte Aufstieg und bereits schon, etwa in der Mitte des nur 130 Seiten kurzen Buches, der fatale Spatenstich. Johann August Suter, wahrscheinlich der erste amerikanische Milliardär, wird durch den zufälligen Goldfund seines Zimmermanns innert weniger Wochen wieder zum Nobody: «Er ist gerade 45 Jahre alt. Nachdem er alles gewagt, alles riskiert, alles unternommen und sich ein neues Leben geschaffen hat, ruiniert ihn die Entdeckung von Goldminen auf seinem Boden. Es sind die reichsten Minen der Welt.»

Massen von Menschen, die nichts zu verlieren haben, strömen aus allen Ecken der Welt ins amerika­nische Eldorado, walzen alles platt. Sie sind von ­Sinnen. Sie sind unheimlich. Im Goldrausch. The rush. Wie Termiten fallen sie über Suters blühende Gärten her. Nichts kann sie aufhalten. «Die vom Gouverneur von Monterey zur Aufrechterhaltung der Ordnung hergeschickten Soldaten werfen Waffen und Gepäck in den Graben und laufen auf die Goldfelder… Das Land wird von Dieben und Briganten durchzogen. Die Desperados und Outlaws geben das Gesetz, ihr ­eigenes Gesetz. Es wird mit dem Lasso gehängt und mit dem Revolver niedergeschossen.»

Seine Frau und die Kinder in der Schweiz haben inzwischen gehört, ihr Vater sei unvorstellbar reich und berühmt geworden. Seltsame Zeitverschiebung. Sie reisen in die USA. Als sie in Neu-Helvetien eintreffen, begegnen sie nicht dem strahlenden General Suter, sondern einem gebrochenen Mann. Kurz darauf stirbt die Frau. Aber Suter gibt sich nochmals einen Ruck. Er schickt seinen ältesten Sohn Emile zum Jus-Studium nach Washington, bringt seine Ländereien wieder in Schuss und beginnt zu prozessieren. Es geht ihm nicht ums Geld, sondern ums Recht. Er strengt Hunderte von Gerichtsverfahren zugleich an, verklagt 17221 Einzelpersonen, beschäftigt die Anwälte von halb Amerika. Und bekommt Recht. Er reitet persönlich mit dem Urteil nach Washington, um es dort vom Obersten Gericht bestätigen zu lassen. Doch kaum ist er abgereist, strömt der Mob auf seine Farmen, zündet seine Häuser an, brandschatzt, raubt, zerstört alles, die Manufakturen, Fabrikgebäude, Mühlen, Sägewerke, alles wird dem Boden gleichgemacht, das Vieh erschossen, die Arbeiter aufgehängt. Auch Suters Sohn Arthur wird getötet, Emile erschiesst sich, Victor ist geflohen und stirbt wenig später. Nur seine Tochter überlebt.

Und Suter? Der verliert den Verstand. Er pro­zessiert zwar weiter, aber die Wirklichkeit entgleitet ihm. Er liest nun täglich in der Apokalypse. Am 17. Juni 1880 treibt er sich wie so oft vor dem Kongressgebäude in Washington herum. Die Zeitungsjungen rennen auf ihn zu und rufen: «General, du hast ­gewonnen, der Kongress hat soeben entschieden, dir hundert Millionen Dollar zu geben!»

«Ist das wahr?», stammelt Suter und schliesst einen der Knaben in seine Arme. Dann hört sein Herz zu schlagen auf.

Es ist ein Sonntag, der Kongress tagt gar nicht. Ein tödlicher Scherz. «Johann August Suter ist mit 77 Jahren gestorben. Der Kongress hat nie ein Urteil gesprochen. Seine Nachkommen haben nie einen Schritt unternommen und den Prozess aufgegeben… Wer will Gold? Wer will Gold?»

Cendrars’ Buch hat die Intensität und Wucht ­einer griechischen Tragödie. Es lässt sich auf unzählige Arten lesen und interpretieren. Auf jeder Seite spürt man, wie leidenschaftlich der Autor selber ­Anteil nimmt an Suters unglaublichem Aufstieg und Fall. Er geht behutsam mit seinem Protagonisten um, blickt nicht auf Suter herab, hofft und leidet mit ihm.

Vergleicht man ihn mit andern Schweizer ­Autoren, fällt auf, wie viele Bücher hierzulande von Verachtung gegenüber den Leuten und der realen Welt geprägt sind. Bei näherem Hinschauen ist diese Überheblichkeit oft einfach Selbstsucht, Borniertheit und Ängstlichkeit. Literatur sollte uns das Leben nicht verleiden, sondern Faszination in uns erregen, Interesse an den Menschen und Lust auf die Welt wecken, uns empfänglicher und neugieriger machen, oder? Dadurch erweitert sie auch unser Verständnis, unseren Radius des Menschenmöglichen und befreit uns ein Stück weit aus unserer unvermeidlichen Engstirnigkeit – anstatt sie zu zelebrieren. Übrigens hängt die Entstehung all dessen, was wir heute unter Moderne, Demokratie und urbaner Toleranz verstehen, möglicherweise mit dieser aufschliessenden, entgrenzenden Funktion der Literatur zusammen. Denn sie verführt uns dazu, uns in Menschen einzufühlen, die uns ­eigentlich fremd sind, und lockt uns ins Andere. ­Genau das macht Cendrars’ Mut und Offenheit aus. Wie gerne hätte ich ihn, den modernsten Schweizer Schriftsteller bis heute, kennengelernt und ihm ­zugehört. Er starb 1961. Er war ein Goldschatz.

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